Die kleinste Entschädigung für den größten Verlust

Von einem nicht geglückten Versuch, per Gerichtsbeschluss einen Gerechtigkeit bewirkenden Präzedenzfall zu schaffen

Offizielles Schreiben des Russischen Militärischen Staatsarchivs, das den am 10. April 1947 erfolgten Tod von Peter Tartler in einem sowjetischen Arbeitslager bestätigt

Friedrich Tartler (Name von der Redaktion geändert) wurde im Mai 1944 in Kronstadt/Bra{ov als Kind begüterter Eltern geboren. Der Vater – nennen wir ihn Peter Tartler – war Kaufmann, die Mutter hatte, wie ein vom Zentralverband auslanddeutscher Studierender ausgestelltes Zeugnis belegt, Kunstgewerbe und Turnen studiert, war aber nicht berufstätig, sondern mehrfache Mutter und Hausfrau. Außer dem Einfamilienhaus in Kronstadts Oberer Vorstadt besaß die Familie noch einen Sommer-Wohnsitz in dem damals zu Kronstadt gehörenden Weiler Untertömösch/Timi{ul de Jos. Hier geschah es im September 1944 – der kleine Friedrich war noch nicht vier Monate alt –, dass dessen Vater von sowjetischen und rumänischen Militärs verhaftet und an einen unbekannten Ort abgeführt wurde.

Nachbarn – so wird vermutet – sollen die Behörden darauf aufmerksam gemacht haben, dass der Sommersitz der Familie Tartler in Untertömösch vor dem Frontwechsel Rumäniens am 23. August 1944 von deutschen Offizieren frequentiert worden war. Dies war Grund genug, um den Familienvater Peter Tartler zu verhaften. Seit diesem Vorfall hat die Familie nie mehr ein Lebenszeichen von ihm erhalten.

Angenommen wird, dass Peter Tartler nach seiner Verhaftung – wie zahlreiche andere Rumäniendeutsche, die sich in der sogenannten Volksgruppenzeit (1940-1944) politisch exponiert hatten – in ein Internierungslager (z.B. Târgu Jiu, Caracal, Turnu Măgurele) gebracht und im Januar 1945 als Angehöriger der deutschen Minderheit, zusammen mit rund 70.000 Volks- und Leidensgenossen, in die Sowjetunion deportiert wurde. Jahre später berichteten zwei Heimkehrer Friedrich Tartlers Mutter, dass Peter Tartler 1947 in einem Arbeitslager in der Region Dnjepropetrowsk gestorben sei. Über diese Zeugenaussagen wurde eine handschriftliche Notiz angelegt, doch wurde sie nicht notariell beglaubigt. Ein offizielles Dokument über den Tod von Peter Tartler, eine Sterbeurkunde auf seinen Namen hat es nicht gegeben.

Friedrich Tartler, der vaterlos aufwuchs, hatte eine schwere Kindheit. Er berichtete, dass er als Kind für geringe Entlohnung Kühe hüten musste, um seinen Beitrag zum kargen Familienbudget zu leisten. Heute lebt der rüstige, 78 Jahre alte Rentner weiterhin im Elternhaus in Kronstadt. Nach einem arbeitsreichen Leben bezieht er eine bescheidene Rente.

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Bekanntlich wurde im Jahr 2020 das Dekret-Gesetz Nr. 118/1990 über Wiedergutmachungsmaßnahmen zugunsten von Opfern kommunistischer Willkür dahingehend novelliert, dass die Bestimmungen dieses Normativaktes auch auf die Kinder der betroffenen Opfer ausgeweitet wurden. Zu den Personengruppen, auf die sich das Dekret-Gesetz Nr. 118/1990 bezieht, gehören bekanntlich auch die ehemaligen rumäniendeutschen Russland-Deportierten.

Unter deren Kindern fanden die das ursprüngliche Dekret-Gesetz ergänzenden Gesetze Nr. 130/2020 und Nr. 232/2020 große Beachtung. So auch bei Friedrich Tartler. Um aber einen Antrag auf Anerkennung als Kind eines ehemaligen Russland-Deportierten bzw. auf Gewährung der damit verbundenen Rechte, in erster Linie der monatlichen Geldzulage (indemnizație), stellen zu können, benötigte er ein offizielles Dokument über den in der Deportation erfolgten Tod seines Vaters.

Hilfreich war diesbezüglich der Hinweis in dem Buch „Deportarea în fosta URSS a etnicilor germani din România. Argumente arhivistice ruse“ (Die Deportation der deutschen Volkszugehörigen aus Rumänien in die ehemalige UdSSR. Russische Archiv-Argumente) von Ilie Schipor (Honterus Verlag, Hermannstadt/Sibiu 2019), dass die rumänische Botschaft in Moskau beim Beschaffen von Informationen über ehemalige Russland-Deportierte aus russischen Archiven behilflich sein kann.

Im Falle von Friedrich Tartler hat das funktioniert. Auf seinen im September 2020 an die rumänische Botschaft in Moskau adressierten Antrag erhielt er noch im Dezember des gleichen Jahres ein vom Russischen Militärischen Staatsarchiv ausgefertigtes Dokument, das bestätigte, dass Peter Tartler ab 1945 im Arbeitslager Nr. 1416 (Region Dnepropetrowsk) interniert war und hier am 10. April 1947 verstorben ist.

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Aufgrund der im Jahr 2020 erfolgten Novellierungen unterscheidet das Dekret-Gesetz Nr. 118/1990 zwischen mehreren Kategorien von Kindern ehemaliger Opfer kommunistischer Willkür, darunter auch der Kinder ehemaliger Russland-Deportierter. Kinder von Personen, die während der gegen sie getroffenen Maßnahmen politischer Willkür (z.B. Haft, Deportation, Evakuierung) verstorben sind, erhalten eine monatliche Geldzulage von 500 Lei.

Kindern, deren Vater oder Mutter nach ihrer Geburt verhaftet oder deportiert wurden oder die während der Haft, Deportation usw. des betroffenen Elternteils geboren wurden, wird eine monatliche Geldzulage zugesprochen, deren Quantum jenem entspricht, das die betroffene Person erhalten würde, falls sie noch am Leben wäre. Im Falle von Kindern, deren Vater oder Mutter fünf Jahre lang in der Russland-Deportation verbracht haben, entspricht das einer monatlichen Zuwendung von 3500 Lei (700 Lei/Deportationsjahr x 5 Jahre = 3500 Lei Zusatzrente/Monat).
Kinder, die nach der politischen Haft, Deportation, Evakuierung usw. von Vater oder Mutter geboren wurden, erhalten die Hälfte der Zuwendung, auf die der betroffene Elternteil ein Anrecht gehabt hätte, bei fünf Jahren Haft oder Deportation von Vater oder Mutter also 1750 Lei.

Aus diesen Ausführungen geht klar hervor, dass die Kinder von Opfern kommunistischer Willkür, die während der gegen sie ergriffenen Willkür-Maßnahmen verstorben sind, gegenüber den Kindern jener Personen, die Haft oder Deportation überlebt haben, eindeutig diskriminiert werden. Auf diese Ungerechtigkeit ist in den Medien zu Recht aufmerksam gemacht worden. „Wie kann es sein, dass (…) diejenigen Kinder die kleinste Entschädigung erhalten, welche den größten Verlust erlitten haben?“ fragte z.B. eine Leserstimme in der „Siebenbürgischen Zeitung“ vom 5. Juli 2021.

Auch Friedrich Tartler sprach die zuständige Behörde (AJPIS – Agenția Județeană pentru Plăți și Inspecție Socială) aufgrund seines Antrags und der beigefügten Dokumente eine monatliche Geldzulage von 500 Lei zu, was einem knappen Viertel seiner Monatsrente entspricht. So weit, so gut: Immerhin ein Erfolg, immerhin mehr als nichts. Doch die Geschichte seines Antrags hatte noch ein Nachspiel, auf das im Folgenden eingegangen werden soll, weil es, wie der zitierte Leserbrief zeigt, von allgemeinerem Interesse ist.

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Ein bekannter Kronstädter Rechtsanwalt, der die Interessen mehrerer Kunden – Kinder von Opfern kommunistischer Willkür – vor Behörden und Gerichten vertritt, nahm sich des Falls von Friedrich Tartler an. Auch dieser Rechtsanwalt vertrat und vertritt die Ansicht, dass die Kinder, deren Vater oder Mutter während politischer Haft oder Deportation verstorben sind, vom Gesetz benachteiligt werden.

Im Kasus Friedrich Tartler war er der Meinung, man könne über ein Gerichtsurteil versuchen, zusätzlich zur bereits bewilligten monatlichen Geldzulage von 500 Lei auch eine mit ersterer zu kumulierende Zuwendung für die Zeitspanne, die Peter Tartler im sowjetischen Arbeitslager verbracht hatte (zwei Jahre und vier Monate, was einer zusätzlichen monatlichen Zuwendung von 1633 Lei entsprechen würde), zu erwirken. Das Dekret-Gesetz Nr. 118/1990 in seiner jetzigen Fassung würde eine derartige Kumulierung nicht ausschließen. Dort, wo Kumulierungen nicht gestattet sind, hat der Gesetzgeber das ausdrücklich angeführt.

Leider hat das angerufene Kronstädter Kreisgericht den vom Rechtsanwalt vertretenen Standpunkt abgelehnt, mit der Begründung, dass im Gesetz verschiedene Situationen beschrieben werden, in denen sich die Kinder deportierter Personen befinden und diese nicht kumuliert werden können, und dass folglich im Sinne des Gesetzes den berechtigten Personen als Wiedergutmachung eine einzige Geldzulage zugesprochen werden kann. Dieser im Februar diesen Jahres gefasste Gerichtsbeschluss hat definitiven Charakter. Dagegen kann nicht rekurriert werden.

Probieren geht über Studieren, besagt ein bekanntes Sprichwort. Im Kasus Friedrich Tartler wurde in diesem Sinne versucht, über einen Gerichtsbeschluss einen Gerechtigkeit bewirkenden Präzedenzfall zu schaffen, der bei Erfolg unter Umständen anderen Personen in gleicher oder ähnlicher Situation hätte von Nutzen sein können. Leider wurde der Antrag abgelehnt.
Positiv zu sehen ist bloß, dass Friedrich Tartler und sein Anwalt es nicht unversucht ließen, sich für eine gute Sache einzusetzen, die bei glücklichem Ausgang auch anderen Personen behilflich gewesen wäre.