„Die Kraft in sich zu spüren, um Dinge zu verändern“

Das Wiener Kindertheater in Bukarest: ganzheitliches Lernen fürs Leben

Botschafterin Ulla Krauss-Nussbaumer stellt Sylvia Rotter vor.

Kostprobe aus Shakespeares „Was ihr wollt“: Malvolio (David Palangă, 16) will die Komtesse (Larisa Cochior, 18) erobern. | Fotos: George Dumitriu

Kostprobe aus Shakespeares „Was ihr wollt“: Malvolio (David Palangă, 16) will die Komtesse (Larisa Cochior, 18) erobern.

Während zu Shakespeares Zeiten die weiblichen Rollen von Männern besetzt waren, tragen heute oft Mädchen Schnurrbärte ...

Die Welt ist eine Bühne. Was könnte einen dann besser auf das Leben vorbereiten als Schauspiel? Nicht etwa, weil es Täuschung und Sich-in-Szene-Setzen bedeutet, sondern – ganz im Gegenteil! Gefragt sind Einfühlungsvermögen, Empathie und Aufmerksamkeit, auch für winzige Details. „Das Ich muss erst mal hinten anstehen“, erklärt Sylvia Rotter, Gründerin des seit 2005 auch in Rumänien existenten Wiener Kindertheaters. Jedes Jahr brilliert es sowohl als Bildungsinitiative als auch mit mehreren Aufführungen eines Stücks, dieses Jahr waren es acht Ausgaben von Shakespeares „Was ihr wollt“ im Bukarester „Teatrul infinit“.

Lernen geschieht ganzheitlich, nicht nur mit dem Gehirn, erklärt Sylvia Rotter ihren Ansatz. Gleichgewichtsübungen oder Pantomime fokussieren bei Schülern, die sich nicht mehr konzentrieren können, die Aufmerksamkeit. Das Auf-der-Bühne-Stehen fördert das Selbstbewusstsein. Diktion, die richtige Artikulation oder Lautstärke beim Sprechen sind auch später im Berufsleben nützlich, erkennt die 18-jährige Larisa Cochior, die später einmal Jura studieren will. Zusammen mit fünf weiteren Kindern und Jugendlichen lieferte sie in der österreichischen Botschaft in Bukarest eine Kostprobe ihrer Kunst, ein Fragment aus dem diesjährigen Bühnenstück des Wiener Kindertheaters. Wie jedes Jahr präsentiert Sylvia Rotter dort ihr Theaterprojekt und die vom österreichischen und rumänischen Bildungsministerium unterstützten Fortbildungsmaßnahmen für Lehrer, „ein langjähriger Kultur- und Bildungsaustausch zwischen den Ländern. Wir wollen den Lehrern die richtigen Instrumente an die Hand geben, damit abgelenkte Kinder  zur Ruhe kommen und man wieder mit ihnen arbeiten kann“, fügt die Schauspielerin an.

Botschafterin Ulla Krauss-Nussbaumer, die das Kindertheater bereits aus Wien kennt, lobt den Ansatz und das soziale Engagement. Rotter erzählt von einem kürzlich stattgefundenen Sonderprojekt: Theaterspielen mit 50 Waisenkindern, unterstützt von Kaufland Rumänien. Ständig ist sie auf der Suche nach neuen Sponsoren. „Unser größter Feind ist die Inflation. Verglichen mit vor fünf Jahren haben sich die Kosten verdoppelt“, bedauert sie. Die einst auch in Großwardein/Oradea, Klausenburg/Cluj-Napoca und Sighetul Marmației laufenden Kindertheater konnten deshalb nicht mehr fortgeführt werden. „Das Geld ist knapp, aber das Projekt ist es wert“, betont Botschafterin Krauss-Nussbaumer. „Denn es vermittelt Jugendlichen die Fähigkeit, die Kraft in sich zu spüren, um Dinge zu verändern. Etwas, was heutzutage fehlt!“

Publikum: Nicht nur für Kinder!

Im geräumigen Protokollraum der Botschaftsresidenz müssen die Gäste jetzt zusammenrücken. Fünf Gestalten schweben in den geschaffenen Freiraum: „Malvolio“ in gelben Strumpfhosen, ein ausdruckstarkes „Dracula“-Lächeln im Gesicht, umschwirrt von vier Grazien – eine im schwarzgerüschten Trauerkleid, eine den Besen schwingend, zwei weitere mit aufgemaltem Schnurrbart, freche „Kerle“ mimend – schon immer gab es zu wenig Jungs in der Theatergruppe, erzählen die Mädchen später. Welch Ironie des Schicksals: Wurden doch zu Shakespeares Zeiten die weiblichen Rollen ausschließlich von Männern besetzt!

Eine Besonderheit des Wiener Kindertheaters: Die Rollen werden unabhängig vom Alter vergeben, manchmal spielt ein Knirps einen Greis, was für zusätzliche komische Momente sorgt. Zielgruppe sind keinesfalls nur Kinder. Warum sich Erwachsene die Stücke ansehen sollten? Sylvia Rotter schwärmt: „Weil sie wirklich lustig sind!“ Gut gespielte Komödien, großartige Aufführungen, fügt sie an und lobt ihr rumänisches Trainerteam, darunter Namen wie Laura Vasiliu (Filmschauspielerin) oder Petre Voicu (künstlerischer Leiter). Trainerin Andreea Grindeanu erzählt, viele Kinder sind schon seit Jahren dabei und inwischen selbst Trainer.

„Dass man Menschen spürt“

Nicht alle träumen davon, auch Schauspieler zu werden, wie David Palangă (16), der den Malvolio mimte. David ist seit einem Jahr dabei, dieses Jahr stand er in der Premiere und zwei weiteren Aufführungen auf der Bühne. „Es war eine interessante Erfahrung, ich habe wichtige Dinge gelernt: wie man spricht, sich ausdrückt, die Haltung auf der Bühne.“ Interessierte Kinder ermutigt er: Der Selektionsdruck beim Vorsprechen sei nicht allzu groß, man wolle möglichst viele aufnehmen. Jeder bekommt ein oder zwei Rollen und geprobt wird zweimal wöchentlich, man kann zwischen mehreren Terminen von Montag bis Samstag wählen. Dabei entstehen Freundschaften mit Kindern aller Altersklassen, auch mit den Kleinen. „Wir nehmen uns alle ernst, denn es ist ein ernsthaftes Theater“, betont David.

Larisa, die „trauernde Komtesse“, um die sich „Malvolio“ bemüht, ist seit fünf Jahren dabei. Das Proben hat ihr auch über die Pandemie hinweggeholfen: „Wir haben uns online getroffen oder im Park.“ Was sie fürs Leben daraus mitnimmt? „Sensibel zu sein, zu sehen, was andere nicht sehen, die Umwelt wahrnehmen“, aber auch „Barrieren wie Schüchternheit überwinden“ und Teil eines Kollektivs zu sein. „Wir sind wie eine Familie“, schwärmt sie. „Das Wiener Kindertheater hat uns gelehrt, zusammenzuarbeiten, einander zu helfen und Fehler zu akzeptieren. „Wir sind alle nett zueinander“, schließt sie lächelnd.

Es ist wohl das, was Sylvia Rotter den Kindern als „die selbstverständliche Liebenswürdigkeit“ unbedingt mit auf den Weg geben will. „Das ist ein magisches Wort. Dass man den anderen bemerkt, die Wünsche des anderen, nicht nur ich, ich, ich!“ Manchmal fährt sie mit einer Gruppe aufs Land, illustriert sie, doch zu einem Kind sagte sie direkt: „Dich nehm ich nicht mit, du bist mir zu ich-bezogen.“ Ein Jahr später kam das Mädchen wieder und bedankte sich für die Kritik, sie habe wirklich an sich gearbeitet. „Und sie ist so nett geworden – vorher war sie un-aus-steh-lich!“, lächelt Rotter. Was sie den Kindern noch nahebringen möchte? „Teamgeist. Die Freude an der Kommunikation. Dass man sich erfeut am anderen! Dass man Menschen spürt.“ Aber auch mehr Selbstbewustssein, die Fähigkeit, auftreten zu können, Flexibilität. „Bei uns lernen sie fürs Leben!“, betont Sylvia Rotter.

In Rumänien ganz klein angefangen

2005 kam das Wiener Kindertheater durch einen Zufall nach Rumänien. Rotter hatte  damals in Wien eine rumänische Assistentin, „Mona Erhan, eine phantastische Schauspielerin aus Oradea, die aber zu wenig verdiente und als Au Pair für eine befreundete Wiener Familie arbeitete.“ Diese hatte vorgeschlagen, das Kindertheater doch „ganz klein“ nach Großwardein zu bringen. „Wir haben von irgendjemandem 2500 Euro bekommen und haben einfach angefangen“, lacht Sylvia Rotter.

Etwa fünf bis sechsmal im Jahr reist sie seither für ein paar Tage nach Rumänien. Beeindruckt ist sie von der Hingabe der Eltern, die teils aus sehr ärmlichen Verhältnissen kommen und doch großen Wert darauf legen, ihre Kinder im Wiener Kindertheater einzuschreiben. Zum anderen hat sie das rumänische Theater allgemein positiv überrascht. „Ich bin in England an der Royal Academy of Dramatic Arts ausgebildet worden“, erzählt sie, „und habe in England etwas kennengelernt, was es bei uns in Österreich nicht gibt: einen Movement Coach, jemanden, der nur für die Bewegungen zuständig ist.“ Eine exzellente Engländerin auf diesem Gebiet sei Shona Morris, mit der sie ein paarmal nach Rumänien kam und auch das rumänische Theater besuchte. „Und sie sagte mir, hier hat sie ein Theater erlebt, das sie selbst immer angestrebt hat!“ Eine Art des Spielens, die ursprünglich aus Russland nach England gekommen sei, und die sie hier wiedererkannt habe, präzisiert sie. „Ein sehr gutes Körpertheater. Es scheint eine osteuropäische Tradition zu sein.“

Wichtig: Ein Stück mit vielen guten Rollen

Wie sie ihre Stücke für die Kinder auswählt? „Oh, das ist schwierig, denn wir brauchen Stücke mit großer Besetzung und vielen guten Rollen, nicht nur mit einer Hauptrolle. Und es soll eine Komödie sein – aber keine französische, denn die handeln meist von Ehebruch und das finden Kinder nicht witzig.“ Das letzte Stück – Shakespeares „Was ihr wollt“ – sei sehr passend gewesen. „Ein vierhundert Jahre alter Text, aber zeitlos, er hat die Kinder total begeistert!“ Beim nächsten Mal soll es ein österreichisches Stück sein, „Raimund vielleicht, der ist wunderbar“...  

In Kürze beginnt die Auswahl für einen mehrmonatigen Theaterkurs zur Vorbereitung für die nächste Aufführung (www.teatrulvienezdecopii.ro). Vielleicht stehst du, steht Ihr Kind, dann schon mit auf der Bühne. Gut vorbereitet – auch für die Bühne des Lebens.