Die Macht geht vom (volljährigen) Volk aus

Wäre eine Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre sinnvoll? Es spricht einiges dafür

Wirken politisch recht interessiert: Jugendliche auf einer Fridays-for-Future-Demo im Januar 2018 in Berlin | Foto: Jörg Farys / Fridays for Future

„Wählen gehen“ wird meist als Herzstück der Demokratie betrachtet: Bürgerinnen und Bürger können mit ihrem Kreuzerl am Wahlzettel über die politischen Machtverhältnisse und die Weichen für die Zukunft des Landes mitentscheiden. Die Bedeutung des Wahlgangs als Instrument der Mitbestimmung zeigt sich auch darin, zeigen die schweren Kämpfe um dieses Recht: Menschen wurden etwa aufgrund von Geschlecht, sozialer oder ethnischer Zugehörigkeit davon ausgeschlossen. Die Frage, wer mitbestimmen darf und wer nicht, ist auch heute nicht endgültig beantwortet: Die meisten demokratischen Staaten schließen verschiedene Bevölkerungsgruppen vom Wahlrecht aus, etwa geistig Behinderte, (ehemalige) Gefängnisinsassen, Ausländer – oder eben Kinder und Jugendliche. 

Ein europäischer Flickenteppich

Die Frage nach dem Wahlalter wird seit den 1990ern in Europa diskutiert, und es zeichnet sich ein Trend zur Senkung ab, wie Constantin-Alexandru Manda vom rumänischen Thinktank Quartet Institute in einer Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung darlegt: Das deutsche Bundesland Niedersachsen übernahm dabei 1995 die Vorreiterrolle und berechtigte auch 16- und 17-Jährige dazu, ihre Stimmen bei Regionalwahlen abzugeben. 2007 senkte Österreich das allgemeine Wahlalter auf 16 Jahre, 2018 folgte Malta. 

Die meisten Institutionen der EU haben sich für eine Senkung des Wahlalters ausgesprochen– bei den Europawahlen 2024 können erstmals alle ab 16 Jahren wählen. Betrachtet man aber die Situation in den verschiedenen Ländern, wird aber deutlich: Man lässt Jugendliche gerne mitbestimmen, wenn es darum geht, wer regional oder im fernen Brüssel das Sagen hat, aber nicht bei denjenigen Wahlen, die den größten Einfluss haben. 

Die Situation in Rumänien

In Rumänien wurde im September 2022 vom Senat ohne Debatte eine Gesetzesvorlage angenommen, die das aktive Wahlrecht für Kommunal- und Europawahlen auf 16 Jahre senken würde. Allerdings wurde von verschiedenen Seiten kritisiert, dass diese verfassungswidrig sei – das Wahlalter könne nur per Verfassungsnovelle gesenkt werden (ADZ berichtete). 

Manda stellt dies in Frage und bedauert, dass aufgrund dieser laut ihm „angeblichen Verfassungswidrigkeit“ keine öffentliche Debatte über eine mögliche Wahlrechtsänderung geführt wurde. Die Ausführungen des Autors zur Frage der Verfassungswidrigkeit wollen wir hier außer Acht lassen – ein Blick in selbige zeigt aber: In Art. 2, Abs. 1 steht da „Suveranitatea națională aparține poporului român“ – wörtlich „Die nationale Souveränität gehört dem rumänischen Volk“. Dies wird in Bezug auf das aktive Wahlrecht allerdings altersmäßig eingeschränkt in Art. 36, Abs. 1, wo es heißt: „Cetățenii au drept de vot de la vârsta de 18 ani“ (Bürger haben ab dem Alter von 18 Jahren das Recht zu wählen). 

Wer sind „die Jungen“?

Der Begriff „die Jungen“ ist in Rumänien juristisch weit gefasst: Laut „2 alin. (2), lit. a) din Legea tinerilor nr. 350/2006“ wird eine Person als „jung“ bezeichnet, wenn sie zwischen 14 und 35 Jahre alt ist. Manda merkt an, dass diese Definition von „jung“ einen sehr großen Zeitraum umfasst, in den ganz unterschiedliche Lebensabschnitte fallen: Schule bzw. Ausbildung, erste Berufserfahrungen, bis zu Heirat und Elternschaft. Altersspezifische Interessen werden so kaum wahrgenommen, nur einzelne Teilbereiche wie Bildungs- oder Familienpolitik. 

Laut INS fielen unter obengenannte Definition mit 1. Januar 2022 etwa 5.770.000 Personen, die sowohl rumänische Staatsbürger sind als auch ihren Wohnsitz in Rumänien haben – die also alle Voraussetzungen fürs Wahlrecht erfüllen. Von ihnen sind etwas mehr als 4.800.000 in die Wahllisten (listele electorale permanente) eingetragen. Aufgrund ihres Alters vom Wahlrecht ausgeschlossen sind dagegen 950.000 der „Jungen“, nämlich diejenigen im Alter zwischen 14 und 17. Dürften bei den Wahlen 2024 auch 16- und 17-Jährige wählen, so wären 410.000 weitere rumänische Bürgerinnen und Bürger wahlberechtigt, die Anzahl der Wahlberechtigten unter den 14 – bis 19-Jährigen würde sich fast verdoppeln. Das mag nach viel klingen – ist es aber nicht: Denn es gibt im Vergleich der Altersgruppen wenig – und immer weniger – „Junge“. 

Demokratie vs. Demographie 

So lautet denn auch gemäß Studienautor Manda das am häufigsten vorgebrachte Argument für eine Senkung des Wahlalters: Dass damit das Machtgefälle zwischen den Generationen zumindest ein klein wenig ausgeglichen würde. Denn dieses ist beträchtlich: Fast alle europäischen Staaten verzeichnen seit Jahrzehnten sinkende Geburtenraten, damit sinkt der Anteil junger Menschen in der Gesellschaft kontinuierlich. In einer Demokratie bedeutet dies, dass jüngere Generationen weniger, ältere Generationen dagegen mehr Stimmen und damit politische Macht haben: In Deutschland etwa waren bei den letzten Bundestagswahlen erstmals über die Hälfte der Wahlberechtigten über 55 Jahre alt; die unter 30-Jährigen waren mit 14 Prozent das kleinste Wählersegment.

Das Problem wird sich in Zukunft noch verschärfen, auch in Rumänien: Laut Nationalem Institut für Statistik (INS) war mit 1. Januar 2022 die größte Bevölkerungsgruppe die der 40- bis 45-Jährigen – sie sind um 56,71 Prozent zahlreicher als die der bis 14-Jährigen. Das heißt: In 18 Jahren, wenn die jetzt 0-14-Jährigen wählen dürfen, haben die dann 58- bis 76-Jährigen um eben diese 56,71 Prozent mehr Macht als sie. 

Auf globaler Ebene sind diese Machtverhältnisse noch unausgeglichener: Während fast die Hälfte der globalen Bevölkerung unter 30 Jahre alt ist, fallen nur drei Prozent aller Parlamentsabgeordneten weltweit in dieserAltersklasse, so die Angaben des „IPU report on Youth Participation in National Parliaments“ von 2021.

Wieso ist das ein Problem?

Bei Wahlen wird über die Zukunft eines Landes entschieden. Das Problem an dieser demografischen Konstellation ist daher, dass – polemisch ausgedrückt – die Älteren darüber entscheiden, in welcher Welt die Jüngeren später einmal leben müssen. Sie selber müssen das aber nicht, oder nur vergleichsweise kurz – die Konsequenzen heutiger Wahlentscheidungen tragen andere, die jüngeren oder zukünftigen Generationen. Am deutlichsten zeichnet sich dieser Missstand am Beispiel der Erderwärmung ab: Die heutige politische Untätigkeit diesbezüglich ist bequem für diejenigen, die sich im Status Quo gut eingerichtet haben und von den Konsequenzen kaum getroffen werden – weil sie dann, so wohl die Rechnung, hoffentlich schon tot sind. Diese Untätigkeit trägt aber gleichzeitig die Verantwortung dafür, dass die jüngeren und zukünftigen Generationen wohl auf einem Planeten überleben müssen, dessen Klima und Ökosysteme kollabiert sind. 

Und da die älteren Generationen das Gros der Wahlberechtigten stellen, richten Parteien ihre Programme und Versprechen auch an deren Interessen aus. Wahlen gewinnen sich eben mit Wählerstimmen – wieso sollte eine Partei die Interessen von Jungen ins Zentrum stellen, wenn es so wenig von denen gibt, dass ihre Stimmen ein Wahlergebnis kaum beeinflussen? Wenn bspw. eine Partei bzw. ein Politiker, eine Politikerin in Deutschland von 100 Prozent der 18- bis 20-Jährigen gewählt würde, so entspräche das nur 3,2 Prozent der Wählerschaft (Statista zur Bundestagswahl 2021). Und wieso sollte eine Partei die Interessen von Kindern und Jugendlichen in den Vordergrund stellen, wenn die noch nicht einmal wählen dürfen?

Regeln das die Erwachsenen?

Natürlich wäre es die Pflicht der Erwachsenen, deren Interessen zu vertreten – das schreibt auch die Verfassung vor: „Copiii și tinerii se bucură de un regim special de protecție și de asistență în realizarea drepturilor lor.“ (Kinder und Jugendliche genießen besonderen Schutz und Unterstützung bei der Verwirklichung ihrer Rechte). 

Ob dies ausreichend umgesetzt wird, ist allerdings fragwürdig. Zwar könnte man einwenden, dass ganze Institutionen bereitstehen, um sich um die Belange der Kinder und Jugendlichen zu kümmern – allzu viele Mittel stellt die Gesellschaft ihnen dafür aber nicht zur Verfügung: Bekanntlich ist der Anteil des BIP, das in Rumänien in den Bildungsbereich fließt, im EU-Vergleich beschämend niedrig. Die letzten Vergleichszahlen von Eurostat sind von 2019, demnach betrug der Anteil des BIP für den Bildungsbereich hierzulande 3,16 Prozent. Der EU-Schnitt liegt bei 4,7 Prozent, in Norwegen und Schweden liegt der Anteil bei über sieben Prozent. Eigentlich müsste Rumänien in diesem Feld mitspielen: Laut Gesetz müsste das Budget des Bildungsministerums seit 12 Jahren bei 6 Prozent liegen. Umgesetzt wurde dies noch nie.. 

Uninformiert und desinteressiert?

Aber ist es denn nicht unverantwortlich, Sechzehnjährige, quasi halbe Kinder, bei wichtigen politischen Fragen mitentscheiden zu lassen? Die interessieren sich doch nicht für Politik, und sie kennen sich viel zu wenig aus, um eine gute Entscheidung zu treffen?

Diese Argumentation zeigt deutliche Parallelen zu den Begründungen, mit denen anno dazumal Frauen das Wahlrecht verweigert wurde. So wurde in Rumänien das allgemeine Männerwahlrecht 1918 eingeführt, ab 1938 durften alphabetisierte Frauen wählen. Während also auch Männer, die nicht lesen und schreiben konnten, qua ihres männlichen Verstandes eine informierte Wahl treffen konnten, wurde dies Frauen nicht zugetraut – ebenso wenig wie heute Jugendlichen.

Manda bezeichnet das Argument, Jugendliche verfügten nicht über die nötigen Kenntnisse demokratischer Prozesse, als „wahrscheinlich den Gipfel der Ironie“: Schließlich liege es in der Verantwortung des Staates, den heranwachsenden Staatsbürgern und -bürgerinnen dieses Wissen zu vermitteln. Zumindest laut Lehrplan tut er das auch: Bis zum Ende der 8. Klasse, also mit 14 bzw. 15 Jahren, müssten Jugendliche unter anderem über „das politische System in Rumänien; Beziehungen zwischen Bürger und Autorität; Rechte und Verantwortlichkeiten in einer demokratischen Gesellschaft“ unterrichtet sein. Theoretisch sollten sie damit sogar besser informiert sein als Erwachsene, denen diese Inhalte im Schulunterricht noch nicht vermittelt wurden – die aber aufgrund ihres Alters trotzdem wahlberechtigt sind.

Und eigentlich hält der rumänische Staat 16-Jährige auch für fähig, Verantwortung für ihr Handeln zu tragen: Schließlich ist man ab diesem Alter voll strafmündig. Gleichzeitig wird ihnen abgesprochen, verantwortungsvoll eine Wahlentscheidung zu treffen.

Eine Huhn-Ei-Frage

Was das mangelnde politische Interesse der Jugend angeht, so führen Millionen Jugendlicher, die in den letzten Jahren in den Fridays-for-Future-Demos auf die Straße gegangen sind, diesen Vorwurf ad absurdum. Dazu kommt, dass das ganze eine Ei-Huhn-Frage darstellt: Wenn ich ohnehin nicht wählen darf, wieso sollte ich mich mit Politik beschäftigen? Und, Gegenfrage: Wie viele Erwachsene wählen auf Basis einer kritischen Lektüre der Parteiprogramme?

Erste Erfahrungen mit der Senkung des Wahlalters gibt es aus Österreich – die Ergebnisse sind durchwachsen, die Wahlbeteiligung lag mal höher, mal niedriger. 2013 gab ein Viertel der Jugendlichen an, sehr oder ziemlich an Politik interessiert zu sein, kurz vor den Nationalratswahlen 2017 waren es aber etwa 60 Prozent – was darauf hinweisen könnte, dass die Wahlberechtigung das Interesse an Politik steigert.

Ein anderer Effekt zeigt sich bei einer Untersuchung der London School of Economics: Demnach haben bei den Parlamentswahlen in Deutschland 2021 mehr 18- bis 20-Jährige abgestimmt als bei den Wahlen 2017. Aber: Es zeigte sich ein deutlicher Unterschied zwischen denjenigen, die in ihrem Bundesland erst ab 18 Jahren wählen durften – hier stieg die Wahlbeteiligung um 0,5 Prozent – und denen, die bereits mit 16 an Regionalwahlen teilnehmen konnten: Bei ihnen stieg die Wahlbeteiligung um 4,6 Prozent. Möglicherweise ist eine demokratische Beteiligung von 16- und 17-Jährgien auch langfristig sinnvoll?