Die neuen Fremdwörter der deutschen Sprache

Warum Zuwanderung in Berliner Schulen inzwischen kein Thema mehr ist

Symbolfoto: sxc.hu

Isa Heinemann hatte einen prominenten Nachbarn. Der inzwischen zweimalige Oscar-Preisträger Christoph Waltz hat eine Weile zwei Stockwerke über ihr auf der Würzberger Straße im Berliner Bezirk Wilmersdorf gelebt. In Quentin Tarantinos jüngstem Streifen „Django Unchained” spielt der Österreicher den antirassistischen Kopfgeldjäger Dr. King Schultz. Die Rolle bescherte ihm seinen zweiten Academy Award, festigte seine Hollywoodkarriere, die er mit der Rolle des Nazischergen Hans Landa in „Inglourious Basterds“ startete. Inzwischen ist Waltz aus der Wohnung im vierten Stock ausgezogen. Derzeit lebt er zusammen mit seiner Familie in Kalifornien und ist somit zu einem prominenten Zuwanderer geworden.

Ganz prominent wurden auch kontroverse Streitgespräche um das rassistische Wort „nigger“ in Tarantinos jüngstem Film geführt. Über hundert Mal fällt das Tabuwort. Für Tarantino-Verhältnisse eher bescheiden. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain übertraf den Filmemacher mit seinem Roman „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“: 213 Mal kommt das N-Wort darin vor. Vergleichen kann man Twain und Tarantino aber kaum. Schließlich lebte Mark Twain vor mehr als hundert Jahren, als Amerika noch weit entfernt von  „political correctness“ war. Nichtsdestotrotz wurde das N-Wort in den Schulen mit dem Begriff „slave“, also „Sklave“ ausgetauscht, um so mögliche Konfliktsituationen zu entschärfen.

An den unpolitischen Schülern des Oberstufenzentrums (OSZ) Handel 1 aus Berlin-Kreuzberg ging die Debatte vorbei. Zwar sind 99,2 Prozent der Schüler deutsche Staatsangehörige, jedoch stammt laut Englischlehrerin Isa Heinemann mehr als die Hälfte aus Familien mit Migrationshintergrund. In der Minderheit sind eher Schüler aus deutschen Familien. Man achtet sehr darauf, niemandem auf die Füße zu treten. Inzwischen spräche man eher von positiver Diskriminierung. Die Rassismuskarte wird bevorzugt von Unruhestiftern verwendet, um ihr Benehmen zu legitimieren und sich als Opfer darzustellen. Doch eigentlich wird zwischen den Schülern nicht unterschieden. Migrantenkinder würde man längst nicht mehr wegen ihrer Herkunft ausgrenzen. Es geht um Leistung und nicht um Hautfarbe, Geschlecht oder Glauben. Schwer haben es nicht nur Schüler mit Migrationshintergrund. Auch die deutschen Kinder haben meist mit den gleichen Problemen im Schulalltag zu kämpfen.

Soziale Selektivität bleibt ein Problem

Im größten Oberstufenzentrum Deutschlands kommt es selten zu Konflikten. Stattdessen übt man sich im toleranten Umgang miteinander. Das OSZ Handel I ist an der Initiative „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage” aktiv beteiligt. Es ist ein Projekt von Schülern für Schüler und zählt gegenwärtig über 1000 Mitgliedsschulen aus ganz Deutschland. Die stellvertretende Leiterin des Beruflichen Gymnasiums innerhalb des OSZ Handel I, Isa Heinemann, führt das Projekt als Beispiel an, wie es allgemein in der Kreuzberger Bildungseinrichtung zugeht. Obwohl fast 6200 Jugendliche das Oberstufenzentrum besuchen und nur 280 Lehrkräfte sie betreuen, gibt es selten ernstere Konflikte. Isa Heinemann unterrichtet Englisch und Französisch seit 1988 an der OSZ Handel. Zwischenzeitlich ging sie ins Ausland.

Als sie nach sechs Jahren Rumänienaufenthalt 2006 zurück nach Berlin kam, musste sie sich an das Klima der Schule neu gewöhnen. Ein Schüler hätte sich mit Kaffee und Fritten am frühen Morgen in ihren Unterricht gesetzt und der verwunderten Lehrerin nur anmaßend entgegnet: „Ich frühstücke jetzt erst einmal.” Als sie ihn aufforderte, die Klasse zu verlassen, reagierten nicht nur die Schüler überrascht, sondern auch die Lehrerkollegen. Im Lehrerzimmer genoss der besagte junge Mann schon den Ruf eines Unruhestifters, jedoch habe man es ihm ständig durchgehen lassen, indem man mit der beiläufigen Bemerkung „Ach, der” sein Verhalten verharmloste.

Stellvertretende Leiterin des Beruflichen Gymnasiums ist Isa Heinemann seit dem ersten Februar 2013. Die Zeiten könnten nicht schwieriger sein: Die Zahl an Schülern geht zurück und im vergangenen Jahr erreichte nur die Hälfte das Abitur. Viele junge Menschen bleiben auf der Strecke, weil sie die Anforderungen, die das Gymnasium an sie stellt, nicht erfüllen können. Sie wiederholen dann entweder die Klasse oder gehen von der Schule ganz ab. 2012 erreichte das Berufliche Gymnasium einen Rekordhoch bei der Zahl an Schulabgängern. „Wir können sie nicht so unterrichten, dass auch der Letzte gefördert wird”, so Heinemann. Meist trifft es Migrantenkinder. Aber auch viele Jugendliche aus deutschen Unterschichtsfamilien sehen sich überfordert. Im deutschen Bildungssystem würde es immer noch eine krasse Diskrepanz zwischen Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Familien geben, findet die Lehrerin.

Wenn die Eltern Berufsschulen besucht haben, werden auch die Kinder eine Berufsschule besuchen, und wenn die Eltern auf die Uni gingen, dann werden aller Voraussicht nach auch die Kinder diesen Weg einschlagen. Kritiker führen diese Rigidität auf das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland zurück. Es würde zu sozialer Selektivität führen. Überhaupt stünde Deutschland im internationalen Vergleich sehr schlecht da, meint Heinemann. In den letzten Jahren hat nicht nur das Sprachniveau nachgelassen. Lehrer klagen in allen Fächern, dass die Schüler immer schwächer werden. Als Reaktion auf die „katastrophalen” Ergebnisse der PISA-Studie wurde in Deutschland beim Abitur ein fünftes Wahlfach eingeführt, um so die Gesamtnote zu steigern. „Das heißt aber nicht, dass diese Schüler besser sind“, meint Heinemann.

Das Niveau sinkt, es sei aber kein deutsches Phänomen, sondern ein europäisches. Eine Ausnahme stellen die skandinavischen Länder dar, die seit Jahren im internationalen Vergleich Spitzenplätze belegen. „In diesen Ländern wird Bildung anders gefördert. Es wird mehr Geld investiert“, sagt die Lehrerin. „In Deutschland wird so wenig wie möglich für Bildung ausgegeben und Schüler werden nicht individuell gefördert. Man schmeißt alle in eine Klasse und sie müssen sehen, wo sie bleiben.”

An der Sprache scheitert die Bildung

Mangelnde Deutschkenntnisse sind einer der Hauptgründe, weshalb die Schüler am Beruflichen Gymnasium scheitern. Das betrifft alle. Nicht nur Migrantenkinder sondern auch deutsche Muttersprachler. Wo man ansetzen müsste, ist für Heinemann ganz klar: „Zuerst fängt es natürlich in der Familie an“. Wenn zu Hause kein Deutsch gesprochen wird, haben die Kinder in der Schule häufig Sprachschwierigkeiten. Viele nichtdeutsche Muttersprachler würden seit 30 Jahren in Deutschland leben und könnten die Sprache noch immer nicht richtig. Diese hätten sich nicht um die Sprache gekümmert, stattdessen nur eine Basissprache gelernt, womit sie sich am Arbeitsplatz verständigen können. Hinzu kommt, dass der Großteil der Schüler volljährig ist. Darum besteht kaum Kontakt zwischen Schule und Eltern. Aber selbst wenn, wären die Eltern meist hilflos, findet Heinemann. Sie könnten nichts anderes machen, außer Nachhilfe zu organisieren. Dabei ist in Deutschland die Unterstützung der Eltern für die Kinder essenziell. Viele vertrauen aber darauf, dass das Bildungssystem sich um die ausreichende Förderung kümmern wird. Die Eltern setzen ihre Kinder auf den Bildungsweg zum Abitur in der Hoffnung, dass es irgendwie laufen wird.

Isa Heinemann unterrichtet Englisch und nicht Deutsch. Und man möchte meinen, dass die Jugendlichen eine Sprache anders aufnehmen, die international gepflegt wird. Beson-ders  Unterhaltungsmedien können einen anderen Zugang zur Sprache vermitteln. Doch in Wahrheit setzt sich Englisch als Sprache genauso schwer durch wie Deutsch. „Die Schüler hören zwar englische Musik, aber sie hören nicht hin. Sie achten nicht auf die Liedtexte”, findet Heinemann. „Eigentlich gibt es im Englischen die gleichen Probleme wie im Deutschen.”

Neue Fremdwörter der deutschen Sprache

Ein T.C. Boyle oder John Howard Griffin findet selbst bei den Schülern, die den Leistungskurs belegen, keinen Anklang: Bücher wie „The Tortilla Curtain”, die von illegaler Einwanderung handeln, oder wie „Black Like Me”, ein Buch über offenen Rassismus im Alltag, sind für die Schüler in erster Linie reine Pflichtlektüre. 80 Prozent der Schüler in Heinemanns Leistungskurs lesen es dann gar nicht, die restlichen 20 finden es langweilig. „Für sie stellen die aufgeworfenen Themen in den Büchern kein Problem dar.“ Dass die Klassenkollegen Türken, Araber, Russen, Chinesen oder Koreaner sind, ist längst eine Selbstverständlichkeit an der OSZ Handel I und am Beruflichen Gymnasium. Empfindlich wird jedoch auf die sexuelle Ausrichtung anderer Mitschüler reagiert. Wer homosexuell ist und sich offen dazu bekennt, läuft Gefahr, von den anderen Schülern gemobbt zu werden. Darum hält die Leitung des Beruflichen Gymnasiums zu Beginn der elften Klasse eine Woche lang ein Kommunikationstraining ab. „Die Schüler brauchen einen Vorlauf, um zu verstehen, was sie machen, warum alle in einer Klasse sind und wie man damit umgeht. Man lernt miteinander auszukommen.”

Bevor Christoph Waltz’ Figur Dr. King Schultze in Tarantinos Westernepos Leonardo DiCaprio eine Kugel durchs Herz schießt, weist er noch darauf hin, dass der französische Schriftsteller Alexandre Dumas ein Schwarzer gewesen sei. Trotz der klaren Botschaft gegen Sklavenhaltung und Rassismus wurde der Filmemacher aufgrund der expliziten Gewaltdarstellungen und Stereotypen mancher Figuren scharf kritisiert. Diese Darbietung brachte ihm und Waltz jedoch jeweils einen Oscar ein. Ein Triumphzug des exzentrischen Regisseurs für seinen Mut zur Offenheit.

Große und kleine Triumphe

Indessen versuchte Isa Heinemann mit ihren Schülern den Roman „The Tortilla Curtain” zu behandeln. Auch ein hochaktuelles Buch, nicht nur für Amerika, sondern auch für Deutschland. Die Schüler hätte es nur genervt. Sie sehen die Probleme nicht und können auch mit der Sprache nichts anfangen. Zumindest gefrühstückt wird aber in Heinemanns Unterricht nicht mehr.

Große und kleine Triumphe wurden dies- und jenseits des Atlantiks erzielt: Waltz als österreichischer Zuwanderer, der sich gegen etablierte Hollywoodstars durchsetzt, und seine ehemalige Nachbarin als stellvertretende Abteilungsleiterin an dem größten Oberstufenzentrum Deutschlands, wo Worte wie Zuwanderung und Migration inzwischen Fremdwörter sind.