Eginald Schlattner. Der Bruder Kurtfelix (1936-2024)

Fragment aus dem Roman „Brunnentore”, Verlag Traian Pop, Ludwigsburg, 2014, über Kindheit im Szeklerland

Einer verschlüsselten Redensart von damals sinne ich nach: „Du wirst in den Schopfen gesperrt, bis du Wasser verlangst!“ So hieß es in der pädagogischen Drohung. Wie das: „… bis du Wasser verlangst“?

Als ich Kurtfelix jüngst befragte, wusste er sofort Bescheid: „Das war die Mama!“ Der sich sonst an kaum etwas erinnert, geschweige aus jener frühesten Zeit in Szentkeresztbánya.
Wir sind beide über fünfundachtzig. Zweimal im Monat kommt er aus Hermannstadt heraus nach Rothberg.


Hier, im Pfarrhaus, igelt er sich in der sogenannten Drachenkammer ein.

Die Drachenkammer ist ein gemütvoller Raum. Wo die Flugdrachen hängen, die wir mit den sächsischen Kindern gebastelt hatten, seinerzeit, als es sie im Dorf noch gab. Der grüne Schreibschrank unserer Mutter lässt vermuten, dass hier geschrieben wird. Ein schmaler Diwan lädt zum Ruhen ein.

Ich schaue kurz in die Drachenkammer hinein, wedele den Rauch weg, huste hörbar, befrage ihn zu Szentkeresztbánya, ehemals … Umwölkt von grauen Rauchschaden der x-ten Zigarette, ergänzt der Bruder über das Glas Rotwein hinweg: „Dich haben sie nie in den Schopfen  gesperrt. Nur mich. Ich schrie und schrie. Bis ich Wasser verlangte. Nicht einmal dann ließen sie mich frei!“

Wer sie? Was hatte mein Bruder angestellt, dass ihn das Dienstmädchen in den Schuppen sperrte, wo er schrie, laut und lange. Und Wasser verlangte. Er erhielt das Wasser durch eine Öffnung in der Tür und trank es in hastigen Schlucken. Er schrie nicht mehr, er schluchzte. Die Tür blieb verschlossen. Kein Laut mehr. Endlich ließ Anika ihn heraus. Sein Gesicht war blau angelaufen, rot verweint die Augen. Freundschaftlich verabreichte sie ihm noch einen Klaps mit dem „spanischen Rohr“ auf den Hintern, beflügelte seinen Abmarsch. Alle Himmelsrichtungen standen ihm offen. Ohne mich wahrzunehmen, ohne mir einen Blick zu gönnen, lief er hinauf in den Garten. Ich war in der Nähe gestanden, betreten, bleiern. Ich schämte mich, weil ich nie so bestraft worden war, somit nie schreien musste, bis ich Wasser verlangte. Und schämte mich noch mehr, dass ich ihn jetzt nicht herausgelassen hatte. Dann schlich ich ihm nach, barfuß und scheu.

Wohin eilte der Bruder mit so viel Entschlossenheit, wortlos, fast stolz, mit kurzen, tapferen Schritten? Ohne sich die Tränen abzuwischen, mein kleinerer Bruder Kurtfelix? Ich folgte aus der Ferne, getraute mich nicht näher heran, achtete seinen Schmerz. Das gute Wort fand ich nicht.

Er was damals fast fünf Jahre alt, eher mollig als schlank, ein drolliges Bürschchen. Mit einer Fantasie begabt, die nicht einmal über das heiligste Ehrenwort geerdet werden konnte. Mit zielstrebigen Schritten huschte er den Garten hinauf, schlug einen Haken nach rechts. Er tappte noch ein paar Meter bis zum Rand des Wasserloches. Dessen Spiegel den oberen Ring der Steine berührte, geschmückt von einem Kranz leuchtender Dotterblumen. Er war am Brunnentor.

Ohne zu zögern, ohne einzuhalten, ließ er sich so leise ins Wasser gleiten, dass es keinen Spritzer gab, kein Klatschen zu hören war. Es blieb alles totenstill in weiter Runde. Ah, dachte ich, die Brunnentore haben sich geöffnet. Und: Denkt er wirklich, dass Frau Holle auf ihn wartet? Welche Abenteuer harren seiner, was wird er erzählen, wenn er auftaucht, der Goldjunge – ein Wort, das ich aufgeschnappt hatte, das jetzt zu passen schien. Die Sonne stand hoch im Zenit. Ihr Licht erleuchtete die Tiefe des Brunnens. Der wie ein Behälter wirkte, wie eine Zisterne.

Wahr ist, was ich sah: Ich sah meinen Bruder am Grunde des Brunnens ruhig am Boden kauern, bedeckt vom Spiegel der Wasserscheibe. Kauerte dort, nachbarlich nahe vor meinen Augen, eingeschlossen wie von einem Bergkristall. Besaß nicht die Großmutter einen geschliffenen, faustgroßen, wasserklaren Stein mit wunderlichen Einschlüssen, den man – erinnere ich mich recht – grönländischen Bergkristall nannte?

Doch warum rührte sich mein Bruder nicht am Grunde des Brunnens? Warum ging mein Bruder nicht weiter, den Weg zur Frau Holle hinunter? Vielleicht gab es  gar kein Brunnentor  zur Unterwelt der Frau Holle mit ihren Wiesen und Gewässern.

Es hieß im Märchen, dass das verzweifelte Mädchen, das in den Brunnen gesprungen war, die Besinnung verloren habe. Aber es hieß gleichfalls, dass es auf einer lieblichen Wiese erwacht war, geschmückt von tausend Blumen. Wo sonderbarerweise ein Backofen aufflackerte, aus dem das Brot ihr zurief: „Hol mich raus, sonst verbrenne ich. Ich bin schon längst fertig gebacken.“

Und das Mädchen tat es. Und legte Hand an, wo man in den märchenhaft Gefilden nach ihr verlangte. Als Goldmarie kehrte sie wieder.

Der Bruder aber rührte sich nicht. Ich sah sein Gesicht genau. Über den Schläfen eine Stille, die mich erschreckte. Er schlief nicht. Unbewegt kauerte er in seinem glasklaren Gefängnis, keine Wasserblase verriet, dass er atmete. Ferne und fremd war er. Und still.

Plötzlich erinnerte ich mich an den erjagten Hirsch, der hier gelegen hatte, ganz nahe an diesem Wasserloch. Tot.

Mein Bruder Kurtfelix, sehr anders, sehr nahe, er kauerte am Grunde des Brunnens. Und machte sich nicht auf den Weg.

Wir beide verweilten hier, nachbarlich, ich draußen am Brunnenrand und mein Bruder Kurtfelix unten am Grunde des Brunnens. Indes die Zeit verstrich.

Da schrie ich…