Ein Foto bitte!

Foto: sxc.hu

In Washington steht im Stadtpark eine überlebensgroße Sitzstatue von Abraham Lincoln. Einst beobachtete ich dort eine amüsante Szene: Eine japanische Gruppe baute sich davor auf, wobei reihum Fotos von jedem mit jedem geschossen wurden. Also sagen wir mal: Yoko neben Seiko neben Mayumi, Sashimi, Sudoku und Yuki vor dem ollen Abe. KNIPS! Dann Seiko mit Sudoku, Yuki, Hashimoto undsoweiter. KNIPSKNIPS! Bei N Personen gibt das N mal (N-1) mal (N-2) mal undsoweiterundsofort Permutationen oder Knipse – die dank der mathematischen Naturbegabung der Asiaten restlos ausgeschöpft werden konnten. Das Zeitlimit ihres Besuchsprogramms damit wohl auch, denn bestimmt müssen sie noch heute nach Europa, im Rahmen ihres organisierten Dreitageskurztrips: Florida – New York – Washington, London – Paris – Berlin, Rom – Athen – dann noch schnell Cheopspyramide in Kairo und am Abend wieder zurück. Ein fototechnischer Hochgenuss, bei dem man das Auge besser gleich am Objektiv kleben lässt.

Da es in Japan als Kavaliersdelikt gilt, seinen Jahresurlaub auszuschöpfen, sind solche Drei-Kontinente-in-36-Stunden-Reisen dort der Renner. Nichts ersetzt die bewundernden Blicke der Arbeitskollegen, Teehausgeishas und Thermalquellenbadebeckensitznachbarn, denen die dokumentative Flut an Beweisfotos für die absolvierte Prestigereise vorgelegt wird. So lässt sich die Knipswut der Schlitzaugen leicht nachvollziehen. Fotos sind eben Träger unvergesslicher Erinnerungen – und außerdem schöner als jede Wirklichkeit! Denn verflossene Liebhaber oder traumatisierende Pubertätspickel lassen sich heutzutage mit einem DELETE ein für alle Male elegant aus der Biografie entfernen. Für manche ist der Knipskasten gar zum sechsten Sinnesorgan avanciert, das alle anderen überflüssig macht: Was die Fotoplatte nicht sieht, das gibt es nicht!

Wer schon selbst nicht fotografiert, der sollte sich wenigstens das Leben an der Seite eines Fotofreaks nicht entgehen lassen. Auf Reisen springt er hinter jeder Serpentine aus dem Wagen und rennt ein paar Kilometer zurück. Langweilig wird das schon deswegen nicht, weil einen der Linsengucker dann mit zirkusreifen Verrenkungen erfreut, die sämtliche Gärtnerposen toppen –  stets Auge in Auge mit dem schillernden Käfer im Gras oder dem flügelschwirrenden Seraph am Plafond des Klosterpridvors. Oder es tönt ein Schrei aus der übernächsten Baumkrone: „Schnell, das Tele!“

So bleibt man auch als Partner fit. Und schlank, denn statt Schokoriegel trägt man auf Ausflügen Batterieladegerät und Sonnenblende griffbereit im Handtäschchen, weil die zentnerschwere Fotoweste des Göttergatten schon mit Zwischenringen und Ersatzakkus überladen ist. Ansonsten macht er Arbeit wie ein Dreijähriger: sein Hosenboden strotzt vor Grasflecken und sein Spielzeug verteilt sich über die ganze Wohnung: Ladekabel, Speicherkarten, undefinierbare Teilchen von Lego, Nikon und Hasselblad. Wenn man am Boden etwas kleines, schwarzes aus Plastik findet, nimmt man es am besten mit spitzen Fingern auf und legt es behutsam in die Kiste „undefinierbare Objekte“ – gemäß der Faustregel „je winziger, desto kostbarer“.

Vor allem aber sind Fotofreaks Optimisten. Ihr Leben besteht aus strahlenden Gesichtern und exotischen Blüten, atemberaubenden Sonnenuntergängen, schokoladenmundverschmierten Kleinkindern und gischtsprühenden Hochseeabenteuern. Der schlimmste Frost kann sie nicht schrecken, die fotogenen Eisblumen am Küchenfenster entschädigen für stundenlanges Holzhacken. Selbst die fette Kreuzspinne am Kellereingang muss erst von oben, unten, vorne und hinten (immerhin: wer hat schon mal einen Spinnenarsch in Nahaufnahme gesehen?) beknipst werden, bevor der Besen zum Einsatz kommt.
Fotografen fürchten sich vor gar nichts, nicht einmal vor dem Tod. Für sie gilt nur eine einzige Frage: Gibt es ein Leben nach dem Harddisk-Crash?