Ein herbstlicher Wirbelwind für das Gesundheitssystem

EU-Richtlinie 24: Neue Chancen für rumänische Patienten

Das rumänische Gesundheitswesen wurde in den vergangenen Jahren immer wieder reformiert. Gut funktioniert es deshalb trotzdem nicht.
Foto: Zoltán Pázmány

Es kommt auf uns alle, aber besonders auf das rumänische Gesundheitssystem etwas zu: Mit einer neuen EU-Direktive, die das Gesundheitswesen betrifft, kommt in der Union nun ein Westwind auf, der in dem krisengebeutelten rumänischen Gesundheitssystem gar zu einem Wirbelwind anschwellen könnte. Die vom Europäischen Parlament und Rat schon am 9. März 2011 angenommene Richtlinie Nr. 24 soll bis zum 25. Oktober 2013 in der EU auch umgesetzt werden und sie sieht vor, dass alle Patienten der EU-Mitgliedsstaaten das Recht haben werden, grenzüberschreitende Gesundheitsdienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Wohl-gemerkt, es betrifft nur die Dienstleistungen in den Krankenhäusern und Kliniken des jeweiligen staatlichen Gesundheitssystems und nicht die Privatkliniken. Den Patienten soll damit das Recht der freien Entscheidung gewährt werden, den jeweiligen Herkunftsländern bzw. EU-Mitgliedsstaaten obliegt jedoch die Verpflichtung der Kostenerstattung für diese Gesundheitsdienstleistungen.

Diese Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedsstaaten weiterhin für die Dienstleistungen auf ihrem Hoheitsgebiet verantwortlich bleiben. Patienten sollen dadurch keines-wegs zu deren Anwendung ermuntert werden und auch nicht Vorteile gegenüber dem System des Herkunftslandes suchen und erhalten. Die Kostenerstattung soll allein auf solche Dienstleistungen beschränkt sein, auf die die Versicherten in ihren nationalen Gesundheitssystemen einen klaren, rechtmäßigen Anspruch haben. Laut Direktive soll es nicht ihr Ziel sein, Personen für alltägliche Dienstleistungen zu unterstützen. Sie gilt z. B. nicht im Bereich der Langzeitpflege oder für Organtransplantation. Die EU-Staaten werden dadurch verpflichtet, eine Kostenerstattung zu übernehmen und die Patienten über Rechte und Ansprüche u. a. auch durch die Einrichtung von nationalen Kontaktstellen gründlich zu informieren. Des Weiteren hat jeder Staat alle entsprechenden Dienstleistungen mit Kostenübernahme wie auch alle Rechte seiner Versicherten genau festzulegen.

EU-Gesundheit und ungesunde rumänische Bürokratie

Was bedeutet das alles für das einheimische Gesundheitssystem? Selbstverständlich bringt es für viele rumänische Patienten neue Hoffnung und unerwartete Chancen auf Gesundheit und Leben. Es ist Tatsache, dass Tausende rumänische Patienten, vor allem jene aus der Westregion, sich schon seit Jahren in ausländischen Kliniken, vor allem in Szeged, Gyula, Debrecen (Ungarn), aber auch in österreichischen Krankenhäusern, behandeln lassen. Diese Möglichkeit war jedoch bisher nur  wenigen und gewiss allein den vermögenden rumänischen Patienten gewährt, da sie die für rumänische Verhältnisse hohen Kosten selbst tragen können.
Angesichts der unumgänglichen, einschneidenden Änderungen, die diese EU-Richtlinie für das rumänische Gesundheitswesen bringen wird, warnen etliche Fachleute aus unserem System vor eher unliebsamen Folgen für alle.

Die Maßnahme wird wohl den freien Markt im Gesundheitsbereich eröffnen, damit aber auch die Büchse der Pandora: Laut Vertreter der Gesundheitsgewerkschaft „Solidaritatea sanitară“ besteht ein ernsthaftes Risiko, dass das rumänische Gesundheitssystem dadurch völlig ausblutet bzw. dass nun nicht nur die Ärzte und Krankenpfleger, sondern auch die Patienten die rumänischen Krankenhäuser und Kliniken verlassen könnten. Das veraltete und Jahr für Jahr unterfinanzierte System, die steigende Unzufriedenheit des ärztlichen Personals über die Entlohnung und schlechten Arbeitsbedingungen haben dazu geführt, dass immer mehr rumänische Ärzte, Arzthelfer und Krankenpfleger gen Westen ziehen, wo sie sowohl weitaus bessere Löhne als auch ansprechendere Arbeits- und Lebensbedingungen erwarten. Schon zu Beginn 2012 waren 11.200 rumänische Ärzte in westlichen Krankenhäusern und Kliniken tätig. Anfang dieses Jahres sank die Ärztezahl in Rumänien erstmals unter die Grenze von 40.000 auf 39.813. 1990 gab es im rumänischen Gesundheitssystem immerhin noch 55.000 Ärzte. Im Durchschnitt kommen hierzulande heute nur mehr 1,9 Ärzte auf 1000 Einwohner, der EU-Durchschnitt beträgt jedoch 3,6 Ärzte pro 1000 Einwohner.

Mit dem baldigen Inkrafttreten der EU-Richtlinie besteht nun die Gefahr, dass den rumänischen Krankenhäusern nun auch die Patienten davonlaufen werden, um in einem anderen EU-Staat eine bessere medizinische Behandlung zu bekommen. Alle Folgen sind noch nicht abzusehen, doch sie werden voraussichtlich alle schwerwiegend für das einheimische Gesundheitssystem sein: Erstens, warnen die Fachleute, wird das zu einer unausweichlichen Verschlechterung der rumänischen Behandlungskapazitäten führen. Außer dem vorprogrammierten Abgang der Patienten könnte es  zudem zu einer Beschleunigung des laufenden Exodus des medizinischen Personals führen, was aber auch einen drastischen Einbruch der Einnahmen unserer sowieso stets in Geldnot befindlichen Krankenhäuser mit sich bringen könnte. Hinzu kommt noch ein anderes Gespenst: Die Verpflichtung des rumänischen Staates zur Kostenerstattung für die Behandlung rumänischer Patienten in den Auslandskliniken könnte auch zu der Leerung der „Schatzkammer“, der unter starkem Druck stehenden rumänischen Landeskrankenkasse, führen. Das Problem scheint überhaupt keine Lösung zu haben, da unter diesen Bedingungen ein beträchtlicher Teil der aus dem Staatshaushalt für das rumänische Gesundheitssystem bereitgestellten Mittel ins Ausland wandern würden, was, wie in einem Teufelskreis, die zurückbleibenden Patienten wie auch die einheimischen Krankenhäuser ohne Geld lassen würde.

Die schweren Altlasten aus dem kommunistischen Regime, dazu die neuen in zwei Jahrzehnten im rumänischen Gesundheitswesen angehäuften Defizite, bringen das System in arge Bedrängnis. Die dringend erforderliche Reform wurde leider jahrelang von einer Regierung zur anderen weitergereicht, jetzt scheint es zu spät dafür zu sein. Selbst Zuwendungen von Hunderten Millionen Euro für bessere Dienstleistungen, für die auch zurzeit geforderten Gehaltserhöhungen des ärztlichen Personals könnten jetzt, fünf vor zwölf, kaum mehr etwas ausrichten. Laut Fachleuten aus dem System erheben sich jetzt schon Stimmen, die darauf hinweisen, dass es hierzulande wie schon bei etlichen anderen Richtlinien der EU große Schwierigkeiten mit der praktischen Anwendung geben wird: In der EU-Richtlinie Nr. 24/2011 wäre nämlich keine genaue Frist für die Kostenrückerstattung der grenzüberschreitenden Gesundheitsdienstleistungen festgelegt. Die anfallenden Kosten könnten demnach gar in zehn oder 20 Jahren nach der in den ausländischen Kliniken erfolgten Dienstleistung beglichen werden.

Das würde wiederum zu einem schwachen Interesse der ausländischen Kliniken für rumänische Patienten oder gar zu deren offenen Ablehnung führen. Ein solches Szenario wäre durchaus möglich: Derzeit laufen etliche dementsprechende Beschwerden von rumänischen Patienten ein, denen eine ärztliche Behandlung oder OP in Kliniken anderer EU-Länder versagt wurde, weil die rumänischen Behörden die Bezahlung mancher ärztlicher Dienstleistungen mit allerhand einheimischen Tricks unbegründet aufschieben und der Kostenrückerstattung stark nachhinken. Das wurde von Vertretern des rumänischen Gesundheitsministeriums kürzlich auch kleinlaut zugegeben. Wird wohl diese EU-Direktive wie vieles andere dann letztlich an der Behandlung durch die weit erfahrenere und „tüchtige“ Bürokratie der rumänischen Behörden scheitern?