Ein Kernland wackelt

Die Trump-Wahl im November 2016 zeigte, dass der Einfluss des Internets auf Bildung und Information der Wählerschaft, das gezielte Einsetzen von fake news (wer zuerst lügt, findet viele, die´s glauben), das Appellieren an alternative Realitäten und nicht zuletzt das Eingreifen der russischen Geheimdienste Wahlen entscheiden und jede Prognose obsolet machen (können). Wahlen sind seit Trump relativ und unvorhersehbar geworden.
Für die Wahlen in Frankreich am Sonntag (Stichwahl: 7. Mai) kann man keiner Prognose vollen Glauben schenken. Einzig Besorgnis ist berechtigt. Man spricht von „Endzeitwahlen”. Das waren auch die Holland-Wahlen am 15. März. Wieder steht der ökonomische, gesellschaftliche und politische Liberalismus auf dem Prüfstand. In der Welt der Putin, Erdogan und Trump schwebt Europa in Gefahr, globale Tendenzen zu reproduzieren. Dass der Grüne Alexander v. d. Bellen in Österreich im vergangenen Dezember eine Ausnahme war, war scheinbar ein Unfall der Geschichte, ebenso die Holland-Wahlen. Trotzdem, van der Bellen siegte in Österreich zweimal (Mai und Dezember 2016). Und in Holland haben 85 Prozent der Wähler für demokratische Werte gestimmt.

Im Unterschied zu den Wahlen in Deutschland im September, deren Ausgang, nach jetzigem Stand, nicht unter dem Damoklesschwert des Extremismus schwebt, gibt es zur Frankreich-Wahl, am Sonntag und im Mai, zahlreiche Fragezeichen. Frankreich wird wie eine Art „kranker Mann Europas” analysiert. Zu Recht?
Der Urnengang gefährdet – durch seine Unvorhersehbarkeit – die Demokratie Frankreichs und die Zukunft EU-Europas. Ein EU-Kernland wackelt. Zufall oder nicht: Auch der bereits vor 150 Jahren persiflierte „kranke Mann am Bosporus”, die Türkei, hat sich dieser Tage durch eine demokratische Maßnahme einen Diktaturschub verpasst, der einen zweiten „Kranken” geschaffen hat. Dass sich Erdogan mit seinen neuen Vollmachten nicht zum Diktator entwickelt, ist unvorstellbar. Beruhigend: das System der Zwei-Runden-Wahl ist einem Wahlsieg der Extremisten ungünstig (siehe Österreich, auch Rumänien – Vadim Tudor..., oder Frankreich). Die erste Wahlrunde ist die „Aufweckrunde”, mit meist schockierendem Ergebnis, die zweite die „Realismusrunde”, wenn sich die mobilisieren, die während der Erstwahl auf dem Sofa saßen. Auch deshalb ist der charismatische Emmanuel Macron als Kandidat der Mitte am Sonntag Geheimfavorit, am 7. Mai erhoffter Wahlsieger.

Der Absolvent der französischen Kaderschmiede L’École National d´Administration ist so realistisch, die Mechanismen des französischen Wahlsystems richtig einzuschätzen. Als Kandidat der Mitte ist er für Frankreich ideal, denn die Mitte bildet die Mehrheit der Wählerschaft. Rechts- oder Links-Extreme waren in Frankreich nie mehrheitsfähig, nicht einmal zu Zeiten der 1968er, als die Linke Höchstwerte verzeichnete. Macron erinnert Kommentatoren an 1974, als Valéry Giscard d‘Estaing siegte. Macron muss sich nur davor hüten, fatale Fehler zu machen (wie vor ihm François Fillon) – oder zittern, dass solche Fehler nicht bekannt werden...
Man darf bezüglich Frankreich eines glauben: 75 Prozent der Wahlberechtigten geben an, sich durch den Diskurs der Marine le Pen nicht vertreten zu fühlen. Wenn manche französische Intellektuelle ihn auch als „le plein d’un vide”, „das Volle in einer Leere” bezeichnen, ist Macron glaubhafter für Moderate als Le Pen.
Fazit: auch im Unvorhersehbaren der Frankreich-Wahlen gibt es Vorhersehbares. Endgültig belegbar noch nicht an diesem Sonntag.