Eine Handvoll Seele

Früher steckten kleine Jungs gern mal Frösche in die Hosentasche oder legten der Schwester Maikäfer ins Bett. Heute gibt es das längst nicht mehr. „Iiih, fass das nicht an, das ist voller Bakterien!“ heißt es, und selbst nach dem Streicheln der Hauskatze wird der Knirps zum sofortigen Händewaschen traktiert. Sauberkeit ist eine Tugend, darin sind wir uns wohl alle einig. Trotzdem finde ich es alarmierend, wenn Menschen aus Angst vor Krankheiten die Tuchfühlung mit Mutter Natur verloren haben. Sich davor ekeln, einen harmlosen Regenwurm anzufassen oder beim Anblick einer Maus auf den Küchenstuhl springen. Von sterilen Großstadtmenschen erwartet man vielleicht nichts anderes – aber auf dem Land?

Dass wir da ein wenig abnormal sind (was „normal“ ist, bestimmt schließlich die Masse) wurde mir bei unserem letzten Besuch in meinem früheren Wahlheimatdorf bewusst. Voller Freude entdeckten wir im Stall ein belegtes Schwalbennest. Allerliebst waren die drei Kleinen anzusehen, wie sie ihre weit aufgesperrten gelben Schnäbel aus dem Nest streckten, wenn sie Bewegung in der Nähe gewahrten. Eine paar Tage später sagte mein Mann auf einmal: „Du, ich seh die Schwalben gar nicht mehr ein- und ausfliegen!“

Leicht alarmiert schauten wir nach dem Rechten – und prallten fassungslos zurück. Ameisen bedeckten die winzigen Körper, die tot am Boden lagen. Als er den Finger ins Nest steckte und mit Grabesstimme verkündete,  „da ist auch eins drin gestorben“, traten mir die Tränen in die Augen. Warum musste so etwas passieren? Und was war die Ursache? Die Nachbarskatze hätte doch das ganze Nest heruntergerissen und die Vögelchen zumindest gefressen.

Oder hatte einer der Nachbarn Gift auf seine Felder gespritzt? Dann auf einmal ein freudiger Schrei: „Nein, eins lebt noch!“ Mit dem winzigen Vögelchen in der hohlen Hand trat George ins Freie. Es war noch warm, aber regte sich nicht und seine Augen waren geschlossen. Wer weiß, wann es zuletzt gefressen hatte? Eilig erschlug ich eine Fliege, doch das entkräftete Wesen wollte sein Schnäbelchen nicht öffnen. Mit viel, viel Mühe und einer Pinzette beförderten wir die Nahrung dann doch in den Kehlkopf des Winzlings – und er schluckte!
Von da an war er unser. Wir nannten ihn Puiuţ. Um die Nahrungsversorgung sicherzustellen, machte ich mich mit einem Einmachglas auf die Suche nach Regenwürmern. Da kam es gelegen, dass die Nachbarin gerade beim Umstechen war.

Nach kurzer Zeit war das Glas mit zahlreichen Exemplaren gefüllt – und sie „bewunderte“ meinen  Mut... denn einen Regenwurm würde sie nie anfassen! Zuhause stopften wir Puiuţ alle ein-zwei Stunden voll, was viel einfacher klingt, als es ist, weil einer vorsichtig den Schnabel aufhalten und der andere den sich hektisch windenden Wurm mit den Fingern in den Kehlkopf des zerbrechlichen Winzlings befördern, ihn mit der Pinzette hinunterstoßen und den Schnabel rasch zuklappen musste, bevor der erstaunlich lebhafte Wurm, der mit beiden Enden zu flüchten versucht, wieder elegant herausglitt.

Es hilft auch nicht, ihn zu halbieren, denn dadurch verdoppelt sich das Problem bloß...  Nachbar Mihai staunte nicht schlecht, als er uns bei einer dieser Operationen antraf. „Gura maaare“ flötete George das kleine Wesen gerade an, während ich den zappelnden Wurm mundgerecht zusammenzufalten versuchte. Dann erst bemerkten wir das verdutzte Gesicht neben uns. Als sich der Kleine auch noch auf meine Hand erleichterte, verließ er kopfschüttelnd den Hof. Kurz darauf kamen die Kinder. Ob sie wohl bei der Regenwurmsuche helfen könnten? Henni schüttelte sich vor Lachen, sie hielt die Frage wohl für einen Scherz. Iszabella war blass und brachte keinen Ton heraus. Streicheln wollte das kleine Wesen niemand.

Doch entgegen allen Unkenrufen geschah das Wunder: Unser Puiu] überlebte. Nachdem er wieder zu Kräften gekommen war, begann er, feine Tschilptöne auszustoßen – und kurz darauf kreisten die Schwalbeneltern über dem Hof! Hoffnungsvoll hängten wir das Körbchen mit dem Vogeljungen an einen Nagel im Stall – und beobachteten durchs Fenster, wie sich die Schwalben tatsächlich dort niederließen. Zwar mussten wir ihn noch eine Weile füttern, weil er sein Schnäbelchen immer noch nicht aufsperren wollte, doch zumindest konnten wir ihn in sein Nest zurücksetzen, wo ihn die Eltern wärmten und bewachten. Kurz darauf kehrten auch seine Instinkte zurück.

Als er erstmals hungrig zirpend das Schnäbelchen weit aufriss und ihm die Schwalbenmutter einen Wurm in die gelbe Kehle stopfte, fielen wir uns gerührt in die Arme. Ein letztes Mal nahmen wir unseren Schützling aus dem Nest, um ihn zu begutachten: Sein Bäuchlein war gut gefüllt, auf dem Finger meines Mannes breitete er balancierend die Stummelflügel aus und blickte uns aus tiefschwarzen Knopfaugen zutraulich an. Vergessen die glitschigen Würmer, die ekligen zappelnden Fliegen, der Vogelschiss auf der Hand, denn wir hatten eine Handvoll Seele gerettet! Auch dass wir damit zur Kuriosität eines ganzen Dorfes geworden waren, war das Erlebnis wert.