Erwachsene von morgen vor Hürden im Heute, Hier und Jetzt

Kinderrechte in Schule und Alltag sind leichter gefordert als gesichert

Links Schülerin Luana-Maria Tintea und rechts Schulleiterin Verona-Maria Onofrei, Vorsitzende der Schulkommission für Siebenbürgen beim DFDR

Dr. Christian Schuster, der das Jahr 1989 als Beschlussdatum der Kinderrechts-Konvention nachträglich für viel zu spät hält – „so wichtig waren uns die Kinderrechte…“ – , und Corina Popa, die davon überzeugt ist, dass „die Dinge sich langsam, aber sicher ändern“

Zeigt sich im Gespräch geerdet statt wirklichkeitsfern: Schulberaterin Simona Crăciun | Fotos: der Verfasser

Dass er als Moderator hatte spontan einspringen müssen, war Dr. Robert Pfützner von der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt nicht anzumerken.

„Wenn in Rumänien etwas unter den Teppich gekehrt wird, dann bleibt es unter dem Teppich“ –  keine schonende Sichtweise, die Dr. Christian Schuster Mittwochabend, am 31. Mai, im Spiegelsaal des Demokratischen Forums der Deutschen in Hermannstadt (DFDH) ausspricht. Sie gilt dem Thema Kinderrechte, und im deutschesten aller politischen Lokale des rumänischen Sibiu legt der 45-jährige Dozent von der Fakultät für Europastudien der Babeș-Bolyai-Universität Klausenburg/Cluj-Napoca gleich nach: „Wenn man was ändern muss – und man muss was ändern –, dann muss man mit den Kindern beginnen.“ So das Urteil von Dr. Christian Schuster, einem von fünf Podiums-Gästen des „Hermannstädter Gesprächs“, das wieder mit Unterstützung des Instituts für Auslandsbeziehungen (IfA) stattfand – am Vorabend des „Tages des Kindes“ zum Thema „Möglichkeiten und Grenzen“ der Kinderrechte. Der Fall etwa, dass „Kinder in der Schule von ihren Rechten hören, zuhause davon erzählen und sich deswegen eine Ohrfeige einhandeln“, sei in Rumänien leider noch heute nicht ganz aus der Welt geschafft. Das tut weh. 

54 Artikel führt die 1989 von den Vereinten Nationen beschlossene Kinderrechts-Konvention an, und 196 Länder auf der ganzen Welt, darunter auch Rumänien, haben sie unterzeichnet und ratifiziert. Alles bestens, oder? Der UN-Kinderrechts-Konvention verweigern bis heute nur die USA ihre Unterzeichnung. Trotzdem kommt auch Rumänien nicht ohne Schrammen davon. Schon bald nach der Jahrtausendwende einigte man sich international auf zwei Zusatz-Protokolle, wovon eines das Verbot der Einbeziehung von Kindern in militärische Konflikte statuiert, und das andere die Pornografie, Prostitution und den Handel mit Kindern untersagt. Diese beiden Zusatz-Protokolle hat Rumänien unterzeichnet und ratifiziert. 

Das Zusatz-Protokoll Nummer drei jedoch, seit April 2014 gültig, wartet noch immer auf seine Ratifizierung durch das Rumänische Parlament. Was es besagt? Das Recht von Kindern oder ihrer Stellvertreter auf ein Individualbeschwerdeverfahren, das ermöglicht, Konventionsrechte auf internationaler Ebene einzuklagen. Die Kritik von Dr. Christian Schuster? Das dritte UN-Kinderrechts-Zusatz-Protokoll nicht mehr länger „unter den Teppich kehren“ zu wollen.

Selbstverständlich hat sie viel mit Politik zu tun, die Frage nach den Kinderrechten in Rumänien. An der Spitze und vor der Kulisse des „Hermannstädter Gesprächs“ am letzten Maitag 2023 zunächst aber kommt der wohl hartnäckigste aller kulturell spezifischen Schatten ins Spiel, der nicht erst seit gestern schwer auf Familien lastet: Starre Perspektiven wie beispielsweise „Mein Kind soll Anwalt werden!“, oder die häufig überstrapazierte Vorstellung „Mein Kind soll Arzt werden!“ Verona-Maria Onofrei, Leiterin des Deutschen Lyzeums Mühlbach/Sebeș, tun Kinder leid, „die erreichen sollen, was man selbst nicht erreicht hat“. Sie ist rückhaltlos einverstanden mit der Aussage von Luana-Maria Tintea, bald Schülerin der 11. Klasse am Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium Hermannstadt und aktuell auch Juniorbotschafterin des DFDH: „Eltern vergessen, dass ihre Kinder anderer Meinung als sie selbst sein können.“ 

Diesen Satz könnte ge-nauso auch die Schulkommissions-Vorsitzende der Sektion Siebenbürgen des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) gesagt haben. Später wird die Pädagogin aus Mühlbach hinzufügen, dass „Rechte auch Verpflichtungen mit sich bringen, was an unseren Schulen ein Problem ist.“ 

Auch Schulberaterin Simona Crăciun beteiligt sich im eher spärlich besuchten Spiegelsaal an der Debatte des „Hermannstädter Gesprächs.“ 23 Jahre Erfahrung als Psychologin bringt die am Hermannstädter Octavian-Goga-Gymnasium tätige Bildungs-Expertin vom Team des kreisweiten Zentrums für Bildungsressourcen und -begleitung (CJRAE) in die Diskussionsrunde betreffend Kinderrechte ein. Auch ihr ist die „mögliche Diskrepanz zwischen Neigungen von Kindern und Erwartungen von Eltern“ schon lange gut bekannt. Dabei wären Letztere verpflichtet, ihre Kinder nicht nur über die Freiheit ihrer Entscheidung aufzuklären, sondern ihnen auch die „Freiheit des eigenständigen Übernehmens von Entscheidungs-Verantwortung“ einzuräumen. 

Hinzu kommt Simona Cr²ciun zufolge ein meist ab der 5. Klasse steigender Drang nach Anerkennung, was leider auch der Gefahr von Gewalt etwa in der Form von Mobbing die Türe öffne. „Jede erwachsene Person, der ein Fall von Mobbing bekannt ist, steht in der Pflicht, die Schule davon zu benachrichtigen“, sagt Simona Crăciun. 

Alles unbegrenzt möglich?

An der Demokratischen Freien Schule im Dorf Sibiel, die nach dem Waldkindergarten-Modell arbeitet (dabei finden die meisten Aktivitäten nicht in Gebäuden, sondern im Wald statt), wird Artikel 12 der UN-Kinderrechts-Konvention („Berücksichtigung des Kindeswillens“) vermutlich so stark beherzigt wie an keiner anderen Schule in Hermannstadt und Region. Moderator Dr. Robert Pfützner und Corina Popa vom Team der betreffenden Privatschule lenken die Podiums-Debatte auf den Begriff „Mitbestimmung“. Einen Raum für „alles Mögliche“ gebe es im 2019 gegründeten Waldkindergarten und der Grundschule nach denselben Grundsätzen, in der laut Corina Popa „keine Noten“ und „keine Evaluation“ das Lernen beeinträchtigen würden. „Wir halten uns an die nationalen Lehrpläne, aber wie die Kinder sich das wünschen.“ Für den Anschluss an andere Schulen allerdings „sind wir noch nicht so weit“. 

Vorteilhaft oder doch eher von Nachteil? Wahrscheinlich beides. Und wohl auch eine Reaktion auf einen formalen Bildungsweg, wie ihn manche Kinder und ganz bestimmt nicht wenige Eltern satt haben. Je länger es dauert, desto politischer wird es, das „Hermannstädter Gespräch“ betreffend  „Möglichkeiten und Grenzen“ von Kinderrechten. 

„Grenze schafft Ordnung“, verteidigt Simona Crăciun freundlich überzeugt im Spiegelsaal, wo-rauf ZfA-Fachberaterin Annette Richter-Judt die Behauptung in den Raum stellt, dass „jedes schreckliche Kind eine schreckliche Geschichte zu erzählen hat.“ Die gezielte Frage, ob in Rumänien Sozialassistenten und Sozialpädagogen ähnlich arbeiten könnten wie etwa in Deutschland, muss Simona Crăciun verneinen. Aber die Polizei schaue „fast täglich“ aktiv für Prävention werbend im Octavian-Goga-Gymnasium vorbei, und nicht umsonst liege es in der Wahrheit des Sprichworts, dass „ein ganzes Dorf für die Erziehung eines Kindes nötig ist“. Den Nachholbedarf in Rumänien erklärt Universitätsdozent Dr. Christian Schuster aus Klausenburg einfach: „Nicht die Politik, nicht die Schulen, sondern alle zusammen.“

Er hinkt, der Zusammenhalt

Das aber setzt einen gemeinsamen Kurs voraus. Dass aber im „Hermannstädter Gespräch“ nicht nur Konsens herrscht, sondern auch Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden, passt traurigerweise dazu, dass die Debatte im Spiegelsaal terminlich mit dem dreiwöchigen Streik der Lehrkräfte übereinstimmt. Der deutlich aufzeigt, dass und warum Politik und Schule nur noch sehr bedingt miteinander klarkommen. Wer am allermeisten darunter leidet? Die Kinder, natürlich. 

Vormittags hatten sich ihrerseits 40 Schüler im Alter von 6 bis 15 Jahren im Spiegelsaal zu einer Diskussion mit anschließendem Künstlerworkshop getroffen, Poster gezeichnet und Aquarelle gemalt, auf denen es um ihre, um Kinderrechte geht. Während des „Hermannstädter Gesprächs“ konnte man gut hören, wie langsam ein Aquarell nach dem anderen von der hinten im Spiegelsaal aufgespannten Schnur leise zu Boden fällt.

Nachmittags hätte Dr. Robert Pfützner einen Workshop zum Thema Kinderrechte angeboten, zu dem sich aber nur drei Erwachsene angemeldet haben. Leider sagen zwei von ihnen rasch vorher ab, der Workshop fällt ersatzlos aus, und so bleiben Dr. Robert Pfützner selbst knappe zwei Stunden Zeit, sich für seine Aufgabe als Gesprächs-Moderator vorzubereiten, die er wegen einer Absage kurzfristig übernommen hatte. 

Zwischen Anspruch und Resignation

Mit von der Partie war auch ein Zuhörer, der zwar kein Deutsch versteht, jedoch die Diskussion aufmerksam über die Simultanübersetzung über Kopfhörer verfolgen konnte. Er stellte sich als pensionierter Insider vor, der „40 Jahre lang Lehrer war, davon 20 im Sozialismus und 20 im Kapitalismus.“ 

Er äußerte Lob für das regionale duale Bildungssystem, gefördert vom Deutschen Wirtschaftsclub Siebenbürgen. Doch: „Ich würde nicht zwischen Rechten und Pflichten unterscheiden, das hat es vor 1989 noch nicht gegeben. Ich verstehe den bundesdeutschen Blickwinkel, aber er gründet auf einer anderen Kultur. Nichtermahnung von Pflichten könnte einen Effekt zur Folge haben, der genau dem Gegenteil von dem entspricht, was man eigentlich wollte.“ Moderator Dr. Robert Pfützner tat sich schwer, dieses Statement gelten zu lassen, das im nächsten Augenblick den schon einmal zitierten Fingerzeig von Schulberaterin Simona Crăciun auf die „Ordnung schaffende Grenze“ nach sich zieht.

Eine Schweizerin, seit 2015 in Rumänien lebend und als Pädagogin an der Waldorf-Schule in Rothberg/Roșia beteiligt, fragt sich nach Veranstaltungsende, wann endlich die Gedanken des „Hermannstädter Gesprächs“ zu „Möglichkeiten und Grenzen“ der Kinderrechte „auch in den rumänischen Schulen ankommen.“ Hat die Begegnung von Erwachsenen im Spiegelsaal am Vorabend des Kindertags ein Stück weit verstehbarer gemacht, was politische und kulturelle Mitte bedeutet? Ihr Erreichen ist ohne Kompromisse unmöglich.