Europäische Werte, Verantwortung, Solidarität

Podiumsdiskussion: Michael Roth und Andrei Pleşu in Sorge um die EU

Europaminister Michael Roth: „Ich bin sehr besorgt um unser Europa!“

Die Podiumsdiskussion zum Anlass des ersten Treffens des Rumänisch-Deutschen Forums in der Residenz des deutschen Botschafters war gut besucht.
Fotos: George Dumitriu

Ist der Fortbestand der EU akut gefährdet? Und wenn ja, warum lohnt es sich, für sie zu kämpfen? Sind die Diskussionen um die Flüchtlingsströme die Ursache der gegenwärtigen Krise? Oder nur eine Art „Krankheitssymptom“? Über gemeinsame Herausforderungen und Lösungsansätze zur Bewältigung der Krise in der EU diskutierten anlässlich des ersten Treffens des Rumänisch-Deutschen Forums in Bukarest am 4. Februar der deutsche Europaminister Michael Roth und Andrei Pleşu, rumänischer Philosoph, Politiker und Vorsitzender des Rumänisch-Deutschen Forums.
„Rumänien und Deutschland 2016 – gemeinsame Lösungen für neue europäische Herausforderungen?“ So lautete der Titel der Podiumsdiskussion in der Residenz des deutschen Botschafters Werner Hans Lauk, die aus Anlass des Besuches von Europaminister Michael Roth in Bukarest organisiert wurde. Neben geladenen Gästen aus Politik, Diplomatie, NGOs und Presse sowie den Mitgliedern des Rumänisch-Deutschen Forums leisteten der stellvertretende Premierminister Vasile Dâncu, Außenminister Lazăr Comănescu, der Vorsitzende der Abgeordnetenkammer Valeriu Zgonea und der frühere Außenminister Titus Corlăţean der Einladung Folge.

„Es brennt an vielen Fronten“

In seiner Einleitung drückte Roth ganz offen seine Besorgnis über den Fortbestand der Europäischen Union aus. Es brennt an vielen Fronten: die Flüchtlingskrise, das bevorstehende Referendum über einen möglichen Austritt Großbritanniens („Brexit“), finanzielle und wirtschaftliche Krisen vieler Mitgliedsstaaten und die damit verbundenen Ängste der Bevölkerung, Instabilität in der Ukraine, Krieg in Syrien, nicht zuletzt der Terrorismus... „Mit diesen Herausforderungen kann kein Land alleine fertig werden, es braucht gemeinsame Lösungen!“  Besorgniserregend auch der zunehmende Erfolg der EU-Skeptiker und Populisten mit ihren simplen Slogans: Sie wollen mehr Kontrolle in ihren Hauptstädten und weniger Entscheidungsgewalt in Brüssel. Doch „wir brauchen nicht weniger EU und auch nicht mehr EU“, kommentiert Roth, sondern eine bessere Kooperation bei der Wahrnehmung gemeinsamer Pflichten. Und präzisiert: „Ich denke nicht, dass die EU alles im Detail entscheiden sollte. Doch ihre Grundwerte sollten nicht zur Debatte stehen!“

Die Erwartungen der Länder an die Europäische Union und ihre Perspektiven seien unterschiedlich. Exemplarisch führt er an: Griechenland, Portugal und Zypern leiden an unzureichendem Wachstum; Zentral- und Osteuropa – insbesondere das Baltikum – sorgen sich nach den russischen Interventionen in der Ukraine um ihre Sicherheit und ihre Energieversorgung; Griechenland, Italien, Deutschland, Österreich und Schweden sehen sich mit den größten Flüchtlingsströmen konfrontiert und erwarten hierzu den Beistand der anderen. Langfristig sei „going Europe“ besser als „going solo“, insistiert der Minister. Pleşu pflichtet ihm bei: Die Sorge ist angebracht. „Wir sollten nicht zu selbstsicher sein – denn sonst sprechen wir bald nur noch in festlich-distanzierter Weise über die EU. Aber auch nicht verzagen – sonst geben wir ein Projekt vorzeitig auf, nur weil es nicht sofort Früchte trägt.“ Ihn beunruhigen rechtsextreme Tendenzen in Frankreich und Ungarn, neuerdings auch Polen. Aber auch, dass sich laut Expertenprognosen die Bevölkerung Afrikas in den nächsten 44 Jahren verdoppeln wird. Wie soll man sich darauf vorbereiten? Wie darauf reagieren? Besorgt zu sein, bedeute immerhin, nach Lösungen zu suchen. Was sind die charakteristischen Positivwerte der EU? Für Pleşu die Fähigkeit des Selbstzweifels und die totale Offenheit. „In der EU kann man afrikanische, indische oder orientalische Studien betreiben. In anderen Ländern ist es nicht möglich, Europäistik zu studieren!“

Offen für Religionen und Ethnien

Roth betont auch die Verantwortung der EU zum Erhalt des Friedens. Doch eine Musterlösung zum Umgang mit globalen Krisen gibt es nicht. Individuelle Lösungen müssen gefunden, falsche Entscheidungen hinterfragt werden. „In Afghanistan haben wir unsere Lektion gelernt: Wir waren zu optimistisch!“, räumt der Minister selbstkritisch ein. Ein Land ohne jede Erfahrung in Demokratie könne nicht in so kurzer Zeit zu einer solchen bekehrt werden. Realistischere Nahziele müssten statt dessen heißen: Stabilität für die Bevölkerung, friedliche Koexistenz der Kulturen und Religionen, Beendigung des Hasses. Dass Europa noch vor gar nicht allzu langer Zeit selbst Probleme damit hatte, daran erinnert er mit dem Stichwort „Jugoslawien-Krieg“. Mazedonien, Bosnien-Herzegowina - da gibt es noch immer viel Misstrauen, mangelnde Zuversicht im Umgang miteinander, Konflikte zwischen den Religionen. „Hierin liegt die hauptsächliche Herausforderung an die EU – nicht in der Flüchtlingskrise!“, warnt Roth. Er plädiert für ein Bekenntnis zu den Werten der EU: eine offene Gesellschaft für verschiedene Religionen und Ethnien zu sein. „Doch dieses Konzept steht jetzt unter Druck!“

Rumänien als Partner für Stabilität

Rumänien könnte mit seiner historischen Erfahrung in der friedlichen Koexistenz der Kulturen und Religionen ein Vorbild sein, schlägt er vor. Pleşu bekräftigt: „Wir leben seit 500 Jahren mit dem Islam. Wir haben Erfahrung mit Minderheiten. Dies alles könnte ein Pluspunkt sein. Aber auch unsere Verbindung zum Schwarzmeerraum – zur Krim, zur Türkei oder Georgien, ein Nukleus komplizierter kultureller Landschaften, die einander angenähert werden sollten.“ Nicht zuletzt dank einer sehr aktiven deutschen Minderheit, aber auch wegen der 400.000 in Deutschland lebenden rumänischen Staatsbürger, ist das Band zwischen Rumänien und Deutschland eng. Rumänien soll eine größere Rolle bei der Unterstützung der EU spielen, lädt der Minister ein. „Wir brauchen Rumänien als pro-europäische Kraft“, bekennt er offen.

Herausforderung Migration

75 Prozent aller Flüchtlinge, die letztes Jahr nach Deutschland kamen, kommen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Die Anerkennungsrate der Asylanträge beträgt derzeit 99 Prozent für Syrer, 90 Prozent für Iraker und 50 Prozent für Afghanen, so die Zahlen. Eine Entscheidung zu treffen, wer bleiben darf und wer nicht, erfordert Aufwand und Zeit, deshalb dauern die Asylverfahren so lange. Kurzzeitlösungen zu einer Reduzierung des Flüchtlingsstroms sieht Minister Roth nicht. Die Ursachen der Migration müssen minimiert werden, fordert er daher. Aber auch die Außengrenzen der EU müssen durch Stärkung des Frontex-Systems geschützt werden. Rumänien sei hierbei ein Positivbeispiel. Ein Problem stellt hingegen Libyen dar: 90 Prozent der Flüchtlinge, die über Italien in die EU drängen, kommen über Libyen.
Auf die Frage nach der deutschen Meinung zur freiwilligen Übernahme von Flüchtlingen durch Rumänien bei gleichzeitiger Ablehnung der von Deutschland geforderten bindenden Quoten antwortete Roth: Die konstruktive Rolle Rumäniens ist auf jeden Fall zu würdigen. Aus den vorangegangenen Gesprächen (Anm.: Roth hatte am selben Tag Gespräche mit Staatspräsident Klaus Johannis, Premierminister Dacian Cioloş und Staatssekretär George Ciamba geführt) sei auch klar hervorgegangen, dass Rumänien nun bereit sei, die Flüchtlinge zu übernehmen.

Doch fügt er kritisierend an: „Ich hoffe, dass alle EU-Staaten bereit sind, ihren Teil des Deals zu erfüllen. Es ist schrecklich, dass bisher nur 400 von 160.000 Flüchtlingen relokalisiert wurden. Das ist eine Schande für Sie und alle Mitgliedstaaten, die sich mit diesem Mechanismus auf freiwilliger Basis einverstanden erklärt haben. Ja, wie auch andere Freunde und Partner ist Rumänien mit Deutschland nicht einer Meinung, wenn es um die Einführung einer festen Verteilungsquote geht. Dies ist der Grund, warum ich hier bin: um zuzuhören, Standpunkte auszutauschen, und, wie ich hoffe, zu überzeugen. Aber für manche Entscheidungen braucht es Zeit. Das Problem ist nur, die Zeit läuft – und wir müssen jetzt handeln!“ Was Syrien betrifft, soll ein erneuter diplomatischer Vorstoß versucht werden, kündigt der Minister an. „Wir haben damit zweimal versagt. Die internationale Gemeinschaft hat versagt. Weil es unmöglich war, eine gemeinsame Lösung zu finden, wurden 300.000 Syrer getötet. Russland griff syrische Ziele täglich 200 mal an, in enger Kooperation mit Herrn Assad. Das ist der Grund, warum die Genfer Gespräche unterbrochen werden mussten, um bessere Vorbedingungen für die nächsten Schritte zu schaffen. Zurück an den Verhandlungstisch zu gehen, ist die einzige Chance! Ich sehe keine militärische Lösung.“

Umstrittene Türkei

Im Zusammenhang mit der Syrien-Krise, aber auch in Bezug auf den diskutierten EU-Beitritt wird immer wieder Kritik an der Türkei laut. Auf die Frage nach dem Grund der dennoch engen deutsch-türkischen Beziehungen bekennt Minister Roth: „Deutschland hat Millionen enger Verbindungen zur Türkei!“ Gemeint sind die ehemaligen Gastarbeiter, mittlerweile in dritter Generation. „Sie stehen für unsere Fehler bei ihrer Integration: Wir luden sie als Arbeiter ein, aber vergaßen, sie auch als Menschen einzuladen.“ Auch Europa hatte zunächst kein Interesse an einer Beziehung zur Türkei. „Nun zahlen wir dafür den Tribut“, kritisiert der Minister. „Doch auf einmal akzeptieren alle die Türkei als strategischen Partner, um nachhaltige Lösungen für das Flüchtlingsproblem zu finden.“ Das Land sei jedoch mehr als ein Aufbewahrungsort für zwei Millionen Flüchtlinge. Es könnte eine Brücke zum Nahen und Mittleren Osten sein und eine Schlüsselrolle bei der Lösung der dortigen Krisen einnehmen. Zwar spiele die aktuelle Regierung keine sehr konstruktive Rolle, räumt Roth ein, doch die Kommunikationskanäle müssen offen bleiben. „Es gibt viel Raum für Verbesserung auf beiden Seiten. Die Türkei ist zu wichtig, um ignoriert zu werden!“

Partner oder Gegner: Russland und die USA

Was die Beziehung zu den USA betrifft, sehen sich deutsche Politiker derzeit vor einem Dilemma: Während es politisch enge Beziehungen zur Obama-Administration gibt, ist in der deutschen Bevölkerung eine zunehmend US-kritische Haltung zu beobachten, die sich auf das soziale und wirtschaftliche Konzept der USA (z.B. das Freihandelsabkommen TTIP oder die Existenz der Todesstrafe) bezieht. Man dürfe jedoch nicht vergessen: Unabhängig von wirtschaftlichen Werten stehe die USA immer noch für die Freiheit ein. Was die Beziehungen zu Russland betrifft, stellte er klar: Gute Beziehungen zur EU bedeutet nicht, die Beziehung zu Russland opfern zu müssen. Als Beispiel nannte er Finnland: Das Land mit der längsten Grenze zu Russland – 1300 Kilometer – pflege sowohl zu diesem als auch zur EU enge Kontakte. Finnland und Deutschland teilen dieselben Werte. Für Russland sei dies im Falle von Finnland kein Problem, doch die Annäherung Osteuropas an die EU stört Putin. Dringend nötig sei es, den Osten Europas zu stabilisieren. Doch der deutsche OSZE-Vorsitz 2016 werde nicht in der Lage sein, alle Probleme zu lösen, meint Roth. Wichtig sei die OSZE, um Kommunikationskanäle offen zu halten. Sie bietet eine einzigartige Situation – weil Russland dort selbst Mitglied ist.

„Mein Konzept für Europa?“, echote der Minister eine Frage aus dem Publikum. „Die EU zu stärken, nicht zu schwächen!“ Das Prinzip der Kooperation auszubauen, um klarzumachen, dass die Werteunion nicht nur leere Worthülse ist. In entscheidenden Policy-Angelegenheiten – Fragen des Nahen und Mittleren Ostens, Sicherheitspolitik, Stabilisierung von Osteuropa – enger zu kooperieren, gemeinsam voranzugehen. Und wie viel loyaler Staatsbürger, wie viel Europäer soll man sein? „Wenn ich in den USA bin, bin ich Europäer, wenn ich in Rumänien bin, fühle ich mich als Deutscher und wenn ich in Berlin bin, habe ich oft Heimweh nach meinem kleinen Dorf. Das ist das Konzept“, lächelt Roth. Das EU-Herz schlägt lauter, wenn man außerhalb Europas weilt, habe er immer wieder erlebt. Ple{u klinkt sich ein: Wo man geboren ist, entscheidet der Zufall, darauf kann man nicht stolz sein. Doch Europäer zu sein – das ist eine Aufgabe.