Ewige Erdbeerfelder

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Anfang der 60er war ich noch ein Kind und lebte in Rumänien. Ich wohnte in der Industriestadt Reschitza und fuhr jährlich zu Beginn der Sommerferien im Juni zu meinen Großeltern in die Nachbarstadt Temeswar. Temeswar war für mich die große, weite Welt, es gab dort ein riesiges Freibad mit einem an das erträumte Meer erinnernden Sandstrand, wo ich fast täglich badete, und um die zehn Kinos, die ich eifrig besuchte. Dass dort meist russische Propagandafilme liefen, war mir egal, Hauptsache, es passierte etwas auf der Leinwand. Und vor allem hatten meine Großeltern einen herrlichen Garten, in dem eine Menge Erdbeeren wuchsen. Es gab für mich nichts Kostbareres als diese aromatischen, rot leuchtenden Früchte, die mir meine Großmutter in einer Porzellanschüssel mit Blumenmuster servierte. Ich aß Erdbeeren und war glücklich.

Einige Jahre danach, als ich schon in der 11. Klasse war, hörte ich zum ersten Mal den Beatles-Song „Strawberry Fields Forever“ im verbotenen Radio Free Europe, und es war um mich geschehen. Die ewigen Erdbeerfelder wurden umgehend zu meinem Lieblingssong und die Beatles für einen Erdbeersommer lang zu meiner Lieblingsband. Ich fühlte mich nicht mehr als Jan, sondern nur noch als John Lennon, weil er diesen schwerelosen, nach Erdbeeren duftenden Song ja geschrieben hatte. Und konsequenterweise nannte ich mich dann auch John und reagierte nur noch auf diesen Namen. „Ist John zu Hause?“, wurde meine Mutter gefragt, wenn meine Freunde an unserer Wohnungstür schellten, und ich war zwar körperlich daheim, doch in Gedanken irrte ich unermüdlich in rot leuchtenden Erdbeerfeldern umher.

Ich litt offensichtlich an Tagträumen, genau wie der Protagonist des genialen Ingmar-Bergman-Filmes „Wilde Erdbeeren“, der alte Medizinprofessor Isak Borg. Den Film „Wilde Erdbeeren“ sah ich zum ersten Mal als Student, Anfang der 70er, und er hat mich bis heute nicht losgelassen. Es war ein Wunder, dass dieser Streifen damals in Rumänien überhaupt laufen durfte, denn die Diktatur wütete in vollen Zügen, und alles, was nicht mit Propaganda zu tun hatte, war verdächtig. Isak Borg machte sein hohes Alter schwer zu schaffen, und mir war die Realität ein grausiger Albtraum. Und so wie er träumte ich mich davon, in das Paradies der Erdbeerlandschaften. Für mich befand sich dieses Paradies im Westen, hinter einer unüberwindbaren Mauer.

Heute ist diese Mauer schon längst gefallen, und ich lebe seit über 30 Jahren in Düsseldorf, wo es das ganze Jahr lang Erdbeeren gibt, sogar im Winter. XXL-Erdbeeren aus Spanien, Marokko, Chile oder Argentinien, lange haltbar und ästhetisch perfekt. Das ist zuviel des Erdbeerglücks, und so schmecken diese Erdbeeren oft nach gar nichts.

Ab Mai gibt es dann aber auch hierzulande saisongemäss gereifte Erdbeeren, und mein Freund Robert und seine Frau Dana kommen bald wieder nach Deutschland, um sich an deren Ernte zu beteiligen. In Rumänien arbeiten sie zwar als Lehrer, aber hier pflücken sie in den Sommerferien Erdbeeren, für einen Apfel und ein Ei. Sie tun dies Jahr für Jahr, weil sie mit dem mickrigen Lehrergehalt nicht auskommen. Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. Nun ja, „Strawberry Fields Forever“ kann manchmal auch etwas schief klingen.