Filme als Behälter voll Erinnerungen

Der neue Film von Radu Jude thematisiert auch aktuelle Geschehnisse

Regisseur Radu Jude mit dem Silbernen Bären in Berlin Foto: Gabriel Medrea

Bei den 75. Internationalen Filmfestpielen in Berlin hat Regisseur Radu Jude den Silbernen Bären für das beste Drehbuch gewonnen. Das neue Werk des rumänischen Ausnahme-Regisseurs, „Kontinental 25“, erzählt die Geschichte der Ungarin Orsolya aus Klausenburg/Cluj-Napoca, die in ihrer Funktion als Gerichtsvollzieherin den Kellerunterschlupf eines Obdachlosen räumen lässt, woraufhin sich dieser das Leben nimmt. Diese Tat stürzt die Frau in eine tiefe Krise. In der Folge unternimmt sie allerlei, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Der Film kombiniert Drama und Komödie und beleuchtet scharf Themen wie Wohnungsknappheit, postsozialistische Wirtschaft und Nationalismus. Im Rahmen der Berlinale Filmfestspiele gab Radu Jude als frisch gebackener Gewinner des Silbernen Bären in der Kategorie Drehbuch der ADZ in einer exklusiven Gesprächsrunde Einblick in seine Arbeits- und Denkweise. Die Antworten auf die dort gestellten Fragen notierte Gabriel Medrea.

Der Blick auf Cluj in „Kontinental 25“ ist voller Kuriositäten aus dem Alltagsleben in Rumänien. Sind Sie ein Flaneur, ein Jäger und Sammler obskurer urbaner Details?

Die Idee des Flanierens ist seit Baudelaire und spätestens durch Walter Benjamin eine beliebte. Mir gefällt es, zu Fuß unterwegs zu sein, vor allem in meiner Heimatstadt Bukarest, in der die öffentlichen Verkehrsmittel eher schlecht als recht funktionieren. Ich laufe also viel und beobachte dabei. Städte sind in einem gewissen Sinne wie ein Spektakel, ein Film, ein Theaterstück oder ein Gemälde. Was Cluj anbelangt, kannte ich die Stadt nicht wirklich, bis ich vor zwei Jahren begann, dort an der Fakultät für Theater und Film zu unterrichten. Den Ort lernte ich in dieser Zeit buchstäblich Schritt für Schritt kennen. Als es dann darum ging, den Film dort zu drehen, begann ich, über die Spannungen in der Stadt nachzudenken, ihre Historie, die verrückte Entwicklung der Immobilienlandschaft. Es war der passende Hintergrund, um die Geschichte zu erzählen.

In Ihren Filmen spielen die Sozialen Medien immer wieder eine wichtige Rolle. Hierin werden triviale Angelegenheiten ebenso verhandelt wie Themen von globaler Bedeutung. Haben Sie den Eindruck, dass Ihnen Social Media dabei hilft, ihr Anliegen an den Mann zu bringen?

Grundsätzlich fühle ich mich immer ein wenig beschämt, wenn Kritiker oder Journalisten dem, was wir Filmemacher tun, eine hohe Bedeutung beimessen. Ich habe das Bedürfnis, ein wenig bescheidener zu sein, mir bewusst zu machen, dass ich mit meinem Schaffen nicht die Welt verändern werde. Das resultiert nicht einmal aus einer Frustration, sondern aus dem Wunsch nach Klarheit. Soziale Medien sind offensichtlich eine sehr narzistische Sache, zugleich sind sie ein Mittel, um Handeln zu simulieren. Leute, die beispielsweise zu einer Waffenruhe aufrufen, haben  das Gefühl, etwas getan zu haben. Es gibt Personen, die damit angeben, bereits vor zehn Jahren bei Facebook oder Instagram vor etwas gewarnt zu haben, was nun eingetroffen ist, nach dem Motto: „Schaut, was ich damals schrieb, und ich habe Recht behalten!“ In diesem Sinne ist Social Media eine Echokammer, die nirgends hinführt.

Abgesehen davon bin ich ein großer Fan von Video-Plattformen und deren völlig absurden Inhalten und Persönlichkeiten, die man in anerkannten Kunstformen niemals zu sehen bekäme. Zugleich bin ich mir des manipulativen Potentials durchaus bewusst. Wir hatten bei den Präsidentschaftswahlen vor einigen Monaten eine Einmischung vonseiten Russlands mithilfe von TikTok-Clips.

Ihre Werke sind voller Referenzen. Warum platzieren Sie so viel Kinogeschichte in Ihren Filmen?

Aus zwei Gründen: Zum einen brauche ich sie, um meine inneren Grenzen zu überwinden, meine Gedanken zu stimulieren, Inspiration zu erhalten. Ich ziehe es auch vor, Referenzen nicht zu verstecken, sondern offen zu legen. Außerdem lasse ich das Publikum leidenschaftlich gerne Entdeckungen machen. Und ich will es an bereits bekannte Werke erinnern, um dazu zu animieren, sie sich wieder anzuschauen. Auch aus struktureller Perspektive mache ich mir die Filmgeschichte zunutze. So habe ich mich ein wenig an Hitchcocks „Psycho“ orientiert, und auch Werke, die dem Film „Noir“ zugerechnet werden, haben mich angeregt, ohne dass „Kontinental 25“ eine Genrefilm geworden wäre. Bei der Inszenierung habe ich mich an den Filmen der Gebrüder Lumière orientiert. Thematisch versuche ich im Alten das Neue zu sehen. Das hilft mir auch beim Schreiben meiner Dialoge. Viele neuere Filmemacher versuchen hingegen, von Null anzufangen. Ich brauche immer einen Anhaltspunkt, ein Buch, einen Text, eine Bild-Einstellung aus einem Film. Das macht es für mich weniger neurotisch. Bei diesem Film half mir, dass er auf wahren Begebenheiten beruht.

Gab es neben diesem authentischen Hintergrund noch weitere Aspekte, die Sie an dem Stoff interessiert haben?

Nachdem ich entschieden hatte, die Hauptrolle mit Eszter Tompa zu besetzen, eröffnete mir dies eine komplett neue narrative Dimension. Sie gehört der ungarischen Minderheit in Transsylvanien an. Diese Region, wie viele andere in Europa, hat eine bewegte Geschichte, sie gehörte zum österreich-ungarischen Imperium, dann zu Ungarn und nach dem Ersten Weltkrieg fiel sie quasi als Kriegsbeute Rumänien zu. Der EU sei Dank wird heutzutage für gewöhnlich nicht über die Rechtmäßigkeit von Grenzen diskutiert. Ein Freund, dem ich den Film gezeigt hatte, nannte die Problematik zwischen Ungarn und Rumänen veraltet und irrelevant. Kurz darauf jedoch begann der ultranationalistische Präsidentschaftskandidat Călin Georgescu mit diesem Thema Wahlkampf zu machen. Und Trump propagiert die Idee, Gaza in einen Golfplatz zu verwandeln und sich Grönland einzuverleiben. Auf einmal ist die Vorstellung, Grenzen zu ändern, Teil des Mainstreams geworden. Ich finde das beängstigend und ekelerregend. Gerade habe ich ein Video gesehen, in dem Georgescu unwidersprochen behauptet, Trump und Putin würden den Ukraine-Konflikt beenden, die Ukraine werde es nicht mehr geben und Rumänien müsse dann zur Stelle sein, um sich einen Teil des Territoriums zu sichern. Vor einigen Monaten war solch eine Diskussion noch undenkbar.

Sie zeigen an einer Stelle des Films ein authentisches Kriegsvideo aus der Ukraine. Wie kam es dazu?

In Rumänien sind die Menschen sehr angespannt aufgrund der Lage im Nachbarland. Zu Beginn von Putins Angriffskrieg war die Mehrheit der Rumänen aufseiten der Ukraine. Doch dieser Rückhalt begann schon vor Trumps zweiter Amtszeit durch russische Propaganda zu erodieren. Und jetzt wird die territoriale Souveränität bestimmter Staaten von extremistischen und faschistischen politischen Anführern mehr und mehr infrage gestellt. Dann heißt es zum Beispiel, die Ukraine habe Putin provoziert. Menschen stumpfen durch all die mediale Manipulation zunehmend ab, wenn es um größere Tragödien geht, während sie ihre eigenen, privaten Probleme in den Vordergrund stellen. Das ist etwas, was man nicht verurteilen kann: Wenn man Zahnschmerzen hat, bringt es nichts, wenn einem gesagt wird, dass im Nachbarraum gerade eine Amputation vorgenommen wird.

Die meisten Regisseure scheuen sich davor, das Tagesgeschehen zu besprechen. Ihre Filme hingegen verhandeln oftmals aktuelle Themen. Was ist der Grund hierfür?

Ich habe unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Strategien sechs, sieben Filme über geschichtliche Ereignisse gemacht. Wenn man einen ernsthaften Geschichtsfilm machen will, muss man sehr gründlich recherchieren. Ich selbst bin kein Historiker. Daher habe ich mich mit Geschichtswissenschaftlern zusammengetan, selbst recherchiert, gelesen, Archive gesichtet. Seit ein paar Jahren mache ich wieder zeitgenössische Filme, aber dieser historische Blick ist mir erhalten geblieben. Ich sehe die heutigen Ereignisse als wären sie schon vergangen. Deswegen sind Details, die die jeweilige Zeit repräsentieren, wichtig für mich. Viele Regisseure scheuen sich davor, denn nachdem ein Film abgeschlossen ist, vergeht manchmal noch ein Jahr, bis er in die Kinos kommt. Dann erscheinen diese Einzelheiten schon veraltet. Aber ich mag das, wenn sich meine Arbeiten wie ein Behälter voller Erinnerungen anfühlen. Filme fungieren in diesem Sinne wie ein Konservierungsmittel. Daher versuche ich, so offen wie möglich für aktuelle Geschehnisse zu sein. Bilder auf Social Media beispielsweise verschwinden nach einer kurzen Weile. Ich verewige sie, in dem ich ihnen einen Platz in meinen Filmen einräume.

Das buddhistische „Zen“-Konzept ist sehr prominent in diesem Film. Was bedeutet es für Sie?

Sehen Sie den schlafenden Photographen dort drüben, der eigentlich Bilder von unserem Gespräch schießen müsste? Das ist für mich „Zen“.