Für eine Zukunft in Europa?

Große Teile der Bevölkerung in Georgien riskieren im Moment ihr Leben, um dieser Zukunft näher zu kommen

Fotos: Mikheil Khachidze

Seit Dezember 2023 ist Georgien EU-Beitrittskandidat. Das Land hat 3,7 Millionen Einwohner; etwa 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen einen EU-Beitritt. Der ist sogar in der georgischen Verfassung verankert. Seit Anfang April ist die Lage in Georgien instabil. Tausende Menschen demonstrierten gegen ein Gesetz, dass Nichtregierungsorganisationen verpflichten soll, ihre Finanzierungsquellen aus dem Ausland offen zu legen. Ein Einblick in die Lage des Landes im Südkaukasus.

Schon im März 2023 hatte es den Versuch gegeben, das „Auslandsagenten-Gesetz“ im Parlament durchzubringen. Damals stoppten die Proteste der Bevölkerung das Vorhaben – auch weil es die Chancen einer Annäherung an die Europäische Union und den Erhalt des Status als Beitrittskandidaten gefährdet hätte. Nachdem das Land den Status erhalten hatte, brach die Regierung ihr Versprechen, das Gesetz nicht wieder in Angriff zu nehmen. Seit April wehrte sich die Zivilbevölkerung mit groß angelegten Protesten in Tiflis, aber auch in anderen Städten Georgiens, wie Batumi, Kutaissi oder Sugdidi. Auch in Europa und den USA fanden Kundgebungen und Demonstrationen von Georgie-rinnen und Georgiern statt, die besorgt auf ihr Heimatland blickten.

Seit Anfang Juni ist das Gesetz über die „Transparenz ausländischer Einflussnahme“ nun in Kraft. Weil sich die proeuropäische Staatspräsidentin Salome Surabischwili weigerte, es zu unterzeichnen, tat es der Parlamentspräsident Schalwa Papuaschwili. Bereits seit drei Monaten gingen die Menschen in Georgien auf die Straße, um das Gesetz zu verhindern. Es sieht vor, Nichtregierungsorganisationen, die eine Finanzierung von min-destens 20 Prozent aus dem Ausland erhalten, als „ausländische Agenten“ zu kennzeichnen und zu registrieren. Ziel ist es, auf diese Weise Einflüsse aus dem Westen einzuschränken. Es ähnelt damit dem Gesetz in Russland, das 2012 verabschiedet wurde und dort die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen und regierungskritischen Medien unmöglich macht. Immer wieder karrt die Regierungspartei „Georgischer Traum“ die Bevölkerung vom Land mit Bussen in die Hauptstadt, um ein Gegengewicht zu den proeuropäischen Demonstranten zu schaffen.
„Nein zum russischen Gesetz, ja zu Europa!“

Dass die Lage in Georgien sehr angespannt ist, bestätigt auch der georgische Journalist Mikheil Khachidze von Radio Tbilissi. An der Tagesordnung sind Drohungen, Einschüchterungen und Polizeigewalt: „Menschen protestieren gegen das Gesetz und riskieren ihr Leben. Demonstranten und sogar ihre Angehörigen werden bedroht, eingeschüchtert, einige von ihnen werden auch geschlagen und körperlich angegriffen. Heute wurde wieder einer der Bürgeraktivisten auf der Straße geschlagen. Bei diesen Angreifern handelt es sich um sogenannte „Titushken“, die von der Regierung organisiert sind. Viele Menschen wurden während verschiedener Aktionen verhaftet.“ Ungefähr 500 Personen seien bisher festgenommen worden. Der Slogan „Nein zum russischen Gesetz, ja zu Europa!“ zeige deutlich, wie sich die Mehrheit in Georgien positioniert. Das Versatzstück „nein zu der russischen Regierung“, sei vor Kurzem noch hinzugefügt worden. Die Menschen forderten bereits den Rücktritt der Regierung, so Khachidze.

Bidsina Iwanischwili – Vom Proeuropäer zum Hardliner

Der Mann, der das politische Spiel in Georgien derzeit dominiert, heißt Bidsina Iwanischwili. Milliardär und Oligarch, war er von 2012 bis 2013 ein Jahr lang Premierminister von Georgien. Derzeit ist er weder Präsident noch Premierminister – trotzdem hält er als „Ehrenvorsitzender“ der prorussischen Partei „Georgischer Traum“ die Strippen um die Geschicke des Landes in der Hand. Einst proeuropäisch eingestellt, vollzog Iwanischwili eine Kehrtwende. In einer Rede sprach er unlängst von einer „globalen Kriegspartei“ – dem Westen – die Georgien gefährde. Die Wendung wurde nach dem Angriff auf die Ukraine zum festen Bestanteil der Rhetorik der Vertreter des „Georgischen Traums“. Der Gedanke: Kräfte von außen planten zusammen mit der politischen Opposition einen Umsturz und eine Verwicklung in den Krieg mit Russland. In dieser Rhetorik sind Kritik an der Regierung und Einmischungen von außen gleichbedeutend mit einer Ehrverletzung des georgischen Volkes. Die traditionellen Werte, die orthodoxe Kirche und die georgische Identität sind in dieser Vorstellung durch den sogenannten „liberalen Faschismus“ – ein Begriff, der auch in der russischen Argumentationsweise zu finden ist – in Gefahr.

Was das neue Gesetz bedeutet

Zwei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes müssen sich die betroffenen Organisationen jetzt als „Agenten ausländischer Einflussnahme“ registrieren lassen. Betroffen sind aller Wahrscheinlichkeit nach eine breite Palette an Organisationen: Medien, unabhängige Wahlbeobachter, aber auch Organisationen aus dem kulturellen und sozialen Bereich. Diese übernehmen oft Aufgaben, die normalerweise der Staat übernehmen müsste. Die Transparenz, die durch die NGOs ohnehin durch Berichte oder Angaben auf der Webseite gewährleistet wird, steht dabei eigentlich nicht im Mittelpunkt. Durch das neue Gesetz lassen sich Nichtregierungsorganisationen und Medien jedoch besser behördlich kontrollieren und überwachen. Der Verwaltungsaufwand für die betroffen Organisationen wird erhöht. Auch die strafrechtliche Verfolgung der Organisation bei Fehlern wird durch das Gesetz erleichtert. In Russland führte das Gesetz von 2012 dazu, dass staatliche Behörden nicht mehr mit den betreffenden Organisationen zusammenarbeiteten. Der Journalist Mikheil Khachidze schätzt, dass viele der Nichtregierungsorganisationen sich gegen das Gesetz wehren werden: „Sie haben eine außerordentlichen Erklärung verfasst, dass sie sich nicht als Träger ausländischen Einflusses registrieren lassen werden.“

Nach alledem sind nun auch die EU-Beitrittsverhandlungen gefährdet. Nach der dritten Lesung und der Verabschiedung des Gesetzes im georgischen Parlament Mitte Mai erklärte der Hohe Vertreter der Europäischen Kommission, Josep Borrell: „Die EU hat unmissverständlich und wiederholt erklärt, dass Geist und Inhalt des Gesetzes nicht mit den grundlegenden Normen und Werten der EU im Einklang stehen. Mit dem Gesetz wird die Arbeit der Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien untergraben, obwohl die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung im Mittelpunkt der Verpflichtungen Georgiens im Rahmen des Assoziierungsabkommens und des EU-Beitritts stehen.“

Wohin steuert das Land?

Ähnlich wie in der Republik Moldau nimmt Russland Einfluss auf Georgien. Der jetzige Kurs der pro-russischen Regierung gefährdet einen potenziellen Beitritt zur EU. Seit dem Kaukasuskrieg im Jahr 2008 sind die Regionen Südossetien und Abchasien von Russland militärisch besetzt – 20 Prozent des georgischen Staatsgebietes. Russland hat die Regionen damals als unabhängige Staaten anerkannt. 

Das Land befindet sich in einer schizophrenen Situation: Einerseits sucht es die Annährung zu Europa – was einen starken Rückhalt in der Bevölkerung findet. Andererseits versucht die Regierung, stärker an Russland heranzurücken. Wirtschaftlich ist Georgien mit Russland seit dem Angriff auf die Ukraine stärker verknüpft als vorher.

Schon bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2020 hatte es seitens der Zivilgesellschaft und der politischen Opposition Kritik an deren Durchführung gegeben. Das nun verabschiedete Gesetz könnte auch die freie und unabhängige Durchführung der Wahlen beeinflussen. Im Oktober stehen in Georgien erneut Parlamentswahlen an. Dann entscheidet sich, wie der Kurs des Landes in den kommenden Jahren aussehen wird.