Jeder europäische Staat, der der Europäischen Union beitritt, verpflichtet sich, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit einzuhalten und auszubauen. Rechtsstaatlichkeit ist eine der tragenden Säulen der EU, der jeder Beitrittskandidat nicht nur zustimmen muss, sondern deren Einhaltung auch unter Beweis gestellt werden muss. Deswegen nennt sich die EU auch „Werteunion“.
Seit ihrer Gründung hat die EU aber ein Problem damit, das Übertreten der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in einzelnen Mitgliedstaaten so zu ahnden, dass die Bestrafung im betreffenden Staat eine Korrektur bewirkt. Es werden Ermahnungen ausgesprochen, auch mal Drohungen, aber die wenigen (doch lauten) Gegen-den-Strom-Schwimmer kümmert das im Grunde überhaupt nicht, fließen doch die EU-Subventionen für sie reichlich und ununterbrochen, egal, wie sehr die Pressefreiheit mit Füßen getreten, die Minderheitenrechte ignoriert werden oder wie eklatant der Rechtsdrall sich äußerte.
Martin Schulz, jahrelanges Mitglied des EU-Parlaments und ehemaliger Parlamentspräsident (2012-2017), formuliert die Haltung Ungarns und Polens so: „Geld von der EU, ja bitte; Rechtsstaatsprinzip, nein danke!“ Und Schulz fügt hinzu, diese Haltung, gepaart mit der Erpressermentalität der beiden Staaten (=Veto-Androhung bei jedweder nicht genehmen Maßnahmen) „entkerne“ die EU – ein Prozess, dem man nicht weiter zusehen dürfe, denn solche Entwicklungen, losgetreten von den beiden Abweichlerstaaten, seien „besorgniserregend“. Deshalb müsse ein effizienterer Rechtsstaatsmechanismus geschaffen (und umgesetzt!) werden, der die Ignorierer der Rechtsstaatlichkeit dort trifft, wo es sie schmerzt (und vielleicht zum Einhalten zwingt): beim Geld.
Es kann kein Zufall sein, dass „Reporter ohne Grenzen“ Ungarn beim Thema Pressefreiheit seit der Machtübernahme Viktor Orbáns von Rang 23 auf Rang 89 zurückgestuft hat, dass die antisemitischen Spuckkampagnen, vor allem in Wahlkampfzeiten, aber auch jetzt anlässlich der Pandemie, etwa gegen den aus Ungarn stammenden jüdischen Milliardär George Soros, bis auf öffentliche Plakatierungen schwappen, wenn der Vorsitzende der EVP (zu der auch Orbáns Fidesz – noch – gehört), Manfred Weber, in Ungarn als „Gestapo-Mitglied“ verunglimpft wird oder dass die Roma Ungarns, die „cigányok“, immer als die Schuldigen-von-Dienst geradestehen müssen.
Vor elf Jahren wurde der Vertrag von Lissabon unterzeichnet und der EU-Grundrechte-Charta zugestimmt. Ungarn und Polen unterzeichneten kommentarlos (offensichtlich nach dem rumänischen Sprichwort: „Tu so, als wärest du des Teufels Bruder – bis du den Steg überquert hast!“), stimmten also dem Vertragsinhalt vor der Öffentlichkeit explizit zu und verpflichteten sich, die Regeln einzuhalten. Das laufende Artikel-7-Verfahren (Stimmrechtentzug bei Zuwiderhandeln) stört sie wenig, weil es zahnlos ist. Die Einstimmigkeit von Sanktionen, wie laut EU-Art.7 erforderlich, kann kaum je erreicht werden, weil sich Polen und Ungarn wechselseitig decken, folglich alle missliebigen Entscheidungen blockieren. Einmal mehr erweist sich, dass der „Selbstbedienungsladen EU“ einen zu fürchtenden pekuniären Strafmechanismus benötigt, um von Zuwiderhandelnden ernst genommen zu werden.
Der jüngste Versuch der EU-Staatschefs, den die Erpresserhaltung Ungarns und Polens abzublocken, ist schließlich unter Stabführung der Bundeskanzlerin so weit verwässert worden, dass die Sündenböcke Orbán und Morawiecki ihm letztendlich unter dem Triumphgeheul der ihnen ergebenen Medien siegstrahlend zustimmten.
Damit wurde in Berlin vergangene Woche der EU-Haushalt 2021-2027 und das Milliarden-Pandemie-Hilfspaket über Wasser gehalten. Die Ahndungsmöglichkeit der Übertretung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten ist damit in eine noch dunklere Sackgasse gestoßen worden. Schönreden hilft nichts.