„Grenzbeschreitung“

Buchbesprechung

Unter dem Titel „Grenzbeschreitung - Kulturtheologische Betrachtungen zu Texten siebenbürgischer Autoren“ ist vor Kurzem ein überaus interessantes Buch erschienen, in welchem 15 Besprechungen, Reden und Rezensionen enthalten sind, die D.Dr. Christoph Klein, evangelischer Theologe und 1990 bis 2010 Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien über literarische Texte siebenbürgischer Autoren verfasst hat. 

Auffallend bei dieser Bucherscheinung ist bereits der Umstand der Veröffentlichung in einem bei uns wenig bekannten Fachverlag in Hamburg, der auf wissenschaftliche Literatur spezialisiert ist (Verlag Dr. Kovac). Ebenfalls bemerkenswert ist, dass als Herausgeber der bei uns kaum oder wenig bekannte katholische Theologe und Komparatist, ein Fachmann für vergleichende Religions- und Literaturwissenschaft Peter Tschuggnall zeichnet. Auch der Verfasser des Geleitwortes, der österreichische Theologe und Redemptorist, der auch als Lyriker hervorgetreten ist, Alfons Jestl, dürfte in unseren Breiten bisher kaum in Erscheinung getreten sein. Aber gerade das lässt den hiesigen Leser aufhorchen, denn es deutet darauf hin, dass die Inhalte, um die es in den literarischen Texten geht, die Christoph Klein bespricht, etwas darstellen, das weit über den engen Rahmen siebenbürgischer Heimatliteratur von Bedeutung ist, ja, dass in ihrem scheinbar Kleinen, Hinterwäldlerischen im Grunde ein weiter Kosmos verborgen ist, ein übergreifendes Gedankengut aufleuchtet, das den engen geographischen Rahmen sprengt. 

Es ist dem Herausgeber Peter Tschuggnall und auch Alfons Jestl zu danken, dass sie, indem sie auf die siebenbürgisch-sächsische und überhaupt auf die rumäniendeutsche Literatur aufmerksam machen, diese in den Gesamtfluss der europäischen Kultur einbetten, ihr in einem umfassenden, großen Zusammenhang einen besonderen Stellenwert beimessen und sie ins Gespräch mit anderen Geistesträgern bringen.

Auf Seite 49 weist der Herausgeber darauf hin, dass er im Oktober 2008 bei einer mehrtägigen Akademie-Veranstaltung in Wien, die zu Ehren des Schriftstellers Eginald Schlattner in Verbindung mit der Vorführung des Filmes über seinen Roman „Der geköpfte Hahn“ stattfand, und bei der der Autor auch aus seinem damals neu erschienenen Roman „Rote Handschuhe“ las, erstmalig von dessen Werk und auch von Christoph Klein als einem kompetenten Deuter siebenbürgischen Schrifttums vernommen habe. Daraus ergab sich nach Jahren der Wunsch, eben dieses Schrifttum näher kennenzulernen und es nach komparativer Methode zu untersuchen, wobei die Frage nach der Beziehung der Literatur zur Philosophie und zur Theo-logie behandelt wird und die Gemeinsamkeiten bzw. die Unterschiede der Bereiche Literatur und Religion untersucht werden, wobei nach deren Grenzen gefragt wird. 

Im Anschluss an die bekannte Formulierung des Theologen Paul Tillich, dem sich Christoph Klein sehr verbunden fühlt, dass „die Grenze der eigentlich fruchtbarste Ort der Erkenntnis ist“, wurde der Titel des Buches formuliert. Dabei betont der Autor, dass es sich in seinen Beiträgen nicht um ein „Stehen auf der Grenze“, sondern um ein „Beschreiten der Grenze“, also um einen dynamischen Prozess handelt, wobei darauf geachtet wird, dass es zu keiner „Überschreitung“, bzw. Vermischung der Bereiche kommt, dass aber die beiden Größen einander ergänzen, bzw. dass eine der anderen zur Interpretation verhilft. So also kommt es zur Formulierung des Buchtitels „Grenzbeschreitung“ und zum Untertitel „Kulturtheologische Betrachtungen zu Texten siebenbürgischer Autorinnen und Autoren.

Die Beiträge sind thematisch vielfältig, sie verweisen auf Kunst und Geschichte, auf Erfahren und Erleben, auf Scheitern und Aufstehen, auf Schuld und Vergebung, Werden und Vergehen, auf unerbittlich Vergangenes und doch noch mögliches Künftiges. So heißt es im Vorwort von Alfons Jestl: „Die Formulierung ‚Kulturtheologische Betrachtungen‘ verheißt in sich, es wird an etwas sehr weit herangegangen, woraus immer neue Überraschungen auftauchen, die Vergangenheit nicht als abgeschlossen und erledigt, als vom Gestern einkerkern, sondern bereits die Gegenwart als mit Zukunft durchzogen erkennen lassen“. Als „erkenntnisschwer und erfahrungsträchtig“ bezeichnet er die im Buch behandelten Texte, in deren Kern „Weltenblühen“ keimt, das die unscheinbare Schale sprengt.

In der sehr ausführlichen und detailliert gestalteten Einleitung des Herausgebers (S. 18-78), die eigentlich fast eine abgerundete wissenschaftliche Studie darstellt, werden viele Brennpunkte ausfindig gemacht, die in den besprochenen Texten vorhanden sind und die sie in den großen Zusammenhang abendländischer Kultur stellen. Nach einer ersten Einführung wird in Anlehnung an Kurt Tucholsky, in den drei Abschnitten „Sprechen, „Schreiben“, „Schweigen“, anhand der Texte über das Wesen und über die oft verhüllten Anliegen der Literatur und über ihre Bedeutungstiefe gesprochen, wobei der Verfasser weit über hundert Autoren mit ihren Zeugnissen heranzieht. In diese Darstellung werden drei „Einschriften“ als selbstständige Schriftstücke eingebaut, nämlich eine Würdigung Christoph Kleins in einer Festrede von Joachim Wittstock, Eginald Schlattners Essay „Kaleidoskop einer Freundschaft“, die er Christoph Klein gewidmet hat, sowie seine Gedanken zur Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Herta Müller. 

Dazu kommt noch ein „Extra“ über Abgründe in literarischen Dokumenten. Es handelt sich in vielerlei Hinsicht um das, was unausgesprochen „zwischen den Zeilen“ zu lesen ist, um das, was nicht mehr nach menschlichem Ermessen fassbar, sondern transzendent und dennoch wesentlich wirksam und bedeutungsvoll ist. Es ist das, was die siebenbürgisch-sächsische Seinsweise unverwechselbar macht, womit sie aber gleichzeitig in einen übergreifenden geistigen Zusammenhang kommt, an dem sie teilhat, ihm ihre Werte hinzufügt und damit Teil eines viel größeren Ganzen wird. 
Es geht dem Verfasser um Kontextualisierungen, die er selbst als „unscharf“ bezeichnet, die den Leser aber immer über die aufgedeckten Zusammenhänge staunen lassen. Das Motto des großen Sachsentreffens 2017 in Hermannstadt/Sibiu, „In der Welt zu Hause, in Siebenbürgen daheim“, wird aufgegriffen und unausgesprochen so gedreht, dass das Siebenbürgische, bzw. der sich aussprechende Geist in das Ganze eines sich andeutenden Weltgeistes integriert wird. Das Phänomen solcher Teilnahme trifft auch im Blick auf andere Religionen und Volksgemeinschaften zu.
Das Hauptcorpus des Buches besteht dann aus 15 Abhandlungen über literarische bzw. künstlerische  Werke siebenbürgischer Autoren von Christoph Klein. Die Mehrzahl dieser Beiträge war bereits anderweitig veröffentlicht, sie werden hier zu einem geschlossenen Ganzen vereint. Dieses wird übersichtlich in drei Abschnitte gegliedert. Der erste trägt die Überschrift „Mosaiksteine siebenbürgisch-sächsischer Literatur“ und umfasst sechs Betrachtungen, die ihrerseits mit einem suggestiven Titel versehen sind, der das Interesse an dem Inhalt weckt. Es handelt sich um die Romane „Das Jüngste Gericht in Altbirk“ von Erwin Wittstock, „Die Tatarenpredigt“ von Andreas Birkner und „Der halbe Stein“ von Iris Wolff. Dazu die Novelle „Karussellpolka“ von Joachim Wittstock und um die kunst- und kulturgeschichtliche Studie „Kirchenburgen in Siebenbürgen“ von Hermann und Alida Fabini.

Der zweite Abschnitt unter der Überschrift „Würdigung siebenbürgisch-sächsischer Kunstschaffender“ umfasst fünf Beiträge, die eher biographisch und personenbezogen entworfen sind und jeweils das ganze Lebenswerk der ins Auge gefassten Kulturträger bewerten und deuten. Es handelt sich um die dichtende Theologin und Pfarrfrau Christl Schullerus, den Hochschullehrer und Sprachforscher Gerhard Konnerth, den Komponisten und Musikologen Hans Peter Türk und um Walter Gottfried Seidner als Pfarrer und Schriftsteller. Eine Ausnahme in dieser Abteilung bildet die ausführliche Analyse eines Einzelwerkes, nämlich des Romans „Bestätigt und besiegelt“ von Joachim Wittstock. Unter dem Leitwort „Botschaft von der Grenze“ werden hier die abgründigen, am Rande auch paranormalen Geschehnisse im Zusammenhang mit dem politischen Umschwung 1945 und der Deportation darstellt, wobei sich im Zwielicht des Geschehenen im Kleinen der große, schicksalsträchtige Gesamtwandel aller Verhältnisse vollzieht. So ergibt sich in diesem zweiten Teil des Buches, wie bereits im ersten, eine am Werk einzelner Autoren abgelesene zusammenfassende Schau siebenbürgischen Kunstschaffens.

Der dritte Teil ist nun im Ganzen einer einzigen Persönlichkeit gewidmet. Er trägt den Titel: „Eginald Schlattner: Schriftsteller, Chronist und Seelsorger“ und umfasst vier Abhandlungen. Den Ausgangspunkt bildet die Betrachtung der frühverfassten Erzählung „Odem“, in der sich bereits schattenhaft das unerbittlich Tragische ankündigt, von dem aus sich die Biographie des Autors deuten lässt, die der Interpret unter die Überschrift „Gezeichnet mit dem Zeichen des Kreuzes“ stellt. Der um Liebe und Anerkennung ringende Protagonist der Erzählung scheitert. Nach einem ehrgeizigen und selbst verschuldeten Unfall versagt ihm der Odem und er erstickt im weiten lufterfüllten Raum. Die bereits gedruckte Fassung des dramatisch geschriebenen Textes, der schon auf den begabten, verheißungsvollen Schriftsteller und Erzähler hinwies, wurde indessen, zusammen mit weiteren verbreiteten Arbeiten von der Zensur wieder zurückgewiesen und eingestampft, nachdem der Verfasser plötzlich verhaftet worden war.

Im Buch folgt dann unter der Überschrift „Kein Kinderspiel“ eine ausführliche Besprechung der beiden Romane „Der geköpfte Hahn“ und „Rote Handschuhe“, die gemeinsam zum großen Durchbruch und zum internationalen Bekanntwerden des Schriftstellers Eginald Schlattner geführt haben und die auch in mehrere Sprachen übersetzt und verfilmt worden sind. In ihnen wird über das Erzählerische hinaus in facettenreicher, tiefschürfender Weise die ganze „Conditio humana“, menschliches Sein, überhaupt dargestellt. Im Bild der Geschehnisse in Siebenbürgen spiegeln sich die existentiellen Fragen des Daseins in fast kosmischer Weite. Sie werden zu Symbolen für das Leben mit seinen unerwarteten Herausforderungen und Bedrohungen, mit denen sich der Schriftsteller geistig und als Pfarrer theologisch auseinandersetzt. Über die sprachlich und erzählerisch fesselnd dargestellten Geschehnisse hinaus ist, wie Christoph Klein in seiner Besprechung feststellt, vor allen die Überwindung der Angst vor dem verderblichen Schicksal und dem drohenden Tod durch die rettende Kraft der Liebe das verborgene Thema des „Geköpften Hahnes“. In der umfassenden und geistdurchdrungenen Analyse von Schlattners Schicksalsroman „Rote Handschuhe“ geht Christoph Klein von Paul Tillichs Aussagen über die Bedrohung des menschlichen Daseins durch Leere und Sinnlosigkeit aus. Die daraus erwachsende Angst vor Schuld und Verdammung wird zum existentiellen Problem des autobiographischen Romanhelden, der durch Irrungen und Wirrungen und durch abgründiges Leiden und Ertragen endlich zur Läuterung und Lebenserfüllung findet. 

Unter dem an Thomas Mann angelehnten Leitwort „Das priesterliche Amt des Schriftstellers“ bespricht Christoph Klein den dritten zeitgeschichtlichen Roman Schlattners „Das Klavier im Nebel“, der als Entwicklungsroman nicht nur das Reifen des ebenfalls autobiographischen Protagonisten darstellt, sondern darüber hinaus den Erzählstrang bis zur Dämmerung der kommunistischen Jahre in Siebenbürgen führt. Man hat, wie Christoph Klein meint, mit Recht die besprochenen drei Romane Schlattners als Trilogie bezeichnet, in der die Geschichte der Siebenbürger Sachsen im Hegelschen Sinne „aufgehoben“ ist.

Zum Abschluss seiner Ausführungen kommentiert Klein die letzte große Veröffentlichung Schlattners, das Prosawerk „Wasserzeichen“, in dem weitgehend und betont der Geistliche und nicht der Schriftsteller Schlattner im Vordergrund steht. Es ist die Auseinandersetzung mit der eigenen, persönlich erlebten Geschichte und darüber hinaus mit der Vergangenheit der Kirche der Siebenbürger Sachsen mit ihrem geistlichen und kulturellen Erbe, das mit dem Exo-dus seiner Träger verschwunden ist und vor dem Vergessen bewahrt werden soll.  Dieses Erbe macht Schlattner an bestimmten „Erinnerungsorten“ fest, die für ihn einen „mythischen“ Charakter haben und durch die wasserzeichenhaft etwas Verborgenes und unendlich Wertvolles durchschimmert. Solche Orte sind einzelne geographische Punkte und Ortschaften, vor allem aber der Pfarrhof, das Gotteshaus, der Kirchhof, der Glockenturm, der Gottesacker, der Garten. Es tauchen bestimmte Bräuche, Ordnungen und Lebensformen auf, die verschwunden sind und nun im Wandel der Zeit Neuem, vorher Undenkbarem Platz machen. So erschließt sich dem evangelischen Pfarrer in erstaunlicher Weise die Welt des Orthodoxen mit seinem mystischen, „gottdurchlässigen“ Reichtum. Das Buch weitet sich durch die vielen, ausführlichen Rückblicke und Assoziationen zu einer fesselnden Großerzählung, die nicht nur das eigene Leben, sondern auch das der Gemeinschaft, in das sie eingebettet ist, umfasst.

Was das Ganze des hier besprochenen Buches „Grenzbeschreitung“ be-sonders wertvoll macht ist, dass zu den drei im Vorwort, in der Einleitung und im Hauptteil zu Worte kommenden Verfassern, im Anhang auf 40 Seiten noch ein vierter Autor hinzukommt. Es ist Eginald Schlattner, dem das Buch als Festschrift gewidmet ist, der in einer glänzend geschriebenen „Biographie der gewussten Wirklichkeit“ sein Leben in 18 wohlbemessenen Schritten offenlegt. Schwerpunkt darin sind, außer „Abkunft“ und „Ausbildung“ vor allem „Haft“, „Entscheidung“ und „Verlästerung“, und daran anschließend „Ruf“, „Bücher“ und „die Heimstätte“. Hier tritt der Schriftsteller und Theologe in Personalunion in beeindruckender Weise in Erscheinung und rundet das ganze Buch ab, das man nur mit großem Dank aus der Hand legt. 

Die äußere Umschlaggestaltung verwendet, auf Vorschlag des Herausgebers, ein Gemälde von Joseph Maria Auchentaller „Meer mit Booten“ – ein treffendes Symbol für unendliche Weite, aber auch für Bedrohung und Herausforderung im Blick auf Möglichkeiten für ein lebenswertes Morgen. 


„Grenzbeschreitung - Kulturtheologische Betrachtungen zu Texten siebenbürgischer Autoren“, Christoph Klein, Dr. Kovac Verlag, Hamburg 2021, 302 Seiten, ISBN 978-3-339-12672-6