Hermannstadts pandemisch karger Alltag

Wie weit können Politik und Kultur sich voneinander entfernen?

Erklären großer Probleme geht auch mit wenig Pinselstrichen: Ausschnitt der Graffiti-Zeitung „Ziar Orizontal“ von Dan Perjovschi an der Mauer links des Radu-Stanca-Theaters Hermannstadt. Foto: Klaus Philippi

Die steinernen Schachtische im Astra-Park Hermannstadt/Sibiu hüllen sich seit Ende November 2020 in gewohnt winterliches Schweigen. Sobald die umstehenden Kastanien, Eichen, Platanen und Linden ihre letzten Blätter verloren haben und sämtliche allein auf dem Spielbrett zurückgebliebenen Könige ihre Waffen strecken mussten, beugt sich das Stammpublikum der Rentner, die Zug um Zug am Sieg der Taktik und der Niederlage der Geduld werkeln, den klammen Außentemperaturen der grauen Jahreszeit. Auch mit dem Warten auf das Glück einer ideal aus der Klemme helfenden Sechs-Fünf beim Backgammon, die in rumänischen Spielerkreisen liebend gerne als „Flucht aus Ägypten“ gewürfelt wird, ist es von Dezember bis Februar nicht weit her. Obwohl Hermannstadt aller Festival-Überfrachtung der jungen und mittleren Vergangenheit trotzt und noch immer stoisch-konservativ vor sich hindämmert, hat der Treffpunkt der über 65-jährigen Freaks von Schach und Backgammon unter dem Schatten der Bäume an der nördlichen Ecke des Astra-Parks etwas für sich. Unter dem freiem Himmel der Europäischen Kulturhauptstadt von 2007 sind nicht viele Plätze auszumachen, auf denen Rentner einer spannenden Beschäftigung nachgehen.

Ihr nimmermüder Spieltrieb erwacht stets zu Frühjahrsbeginn aus der Winterpause und begleitet die meist gedrungenen Herren mit bescheidenem Wohlstandsbauch und Hornbrille aus nicht selten kommunistischer Zeit bis in den goldenen Herbst hinein. Laute Rufe oder gar erboste Schimpfe sind aus ihrer Ecke im Astra-Park nie zu hören. Sie lassen sich bereitwillig vom Taktieren mit Würfeln oder Schachfiguren fesseln und brauchen ihren Platz zwischen der Astra-Bibliothek, dem Bistro „Consommé“, der evangelischen Johanniskirche, dem Erasmus-Büchercafé und dem Begegnungs- und Kulturzentrum „Friedrich Teutsch“ der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) nicht zu verteidigen. Niemand macht ihn ihnen streitig.

Dass am Platz ihrer steinernen Schachtische vormals der Wehrturm stand, den die Mitglieder der städtischen Zunft der Tuchscherer zu verteidigen hatten, steht den leidenschaftlichen Brettspielern gut. Gesprochen wird in ihrer Clique wohl nur das Nötigste. Wer in seiner Lieblingsaktivität aufgeht, braucht dabei keine großen Worte verlieren. Sprechen kann nicht die wichtigste Aufgabe eines sinnvoll beschäftigten Menschen sein.

Als die Astra-Bibliothek am 11. November 2020 die Entscheidung traf, ihre Kundschaft nur noch online zu unterhalten, das Bistro „Consommé“ von Koch und Ex-Trompeter Samuel Tatu schließen musste und die Foto-Ausstellung „Panorama Hermannstadt/Sibiu 2005-2020“ von Stefan Jammer im Teutsch-Haus nebenan ebenfalls auf unbestimmte Frist dichtmachte, hörten die alten Herren nicht sofort mit Backgammon und Schachspiel auf. Sie machten einfach noch ein paar Tage weiter. Erst ab dem 16. November, dem Start des vier Wochen anhaltenden Lockdowns Hermannstadts, blieben sie ihrem Treffpunkt im Astra-Park fern. Die Außentemperaturen waren da aber ohnehin schon empfindlich nahe auf grimmige Kälte gesunken.

Ohne seine Brettspieler im Rentenalter jedenfalls kommt der Astra-Park eine Spur lebloser als im Frühling, Sommer und Herbst daher. Ein Winterbild, das einem für gewöhnlich keine Sorgenfalten auf die Stirne treiben sollte. Dennoch ist mit dem berühmt-stimmigen Stillleben von Hermannstadt und Region irgend etwas nicht mehr in Ordnung. Denn die bislang letzte öffentliche Veranstaltung hoch oben im Jugendstil-Festsaal der Astra-Bibliothek liegt nun schon bald ein ganzes Jahr zurück – am 27. Februar 2020 haben hier auf Einladung der Allianz USR-PLUS fünf Stellvertreter ethnischer Minderheiten Rumäniens und zwei pro-europäische Wortführer der nationalen Mehrheitsgesellschaft unter Moderation von Schriftsteller Radu Vancu frei über die nicht einfache Vorgabe „Și ceilalți suntem tot noi. Din Sibiu către o Europă a diversității“ („Die Anderen sind auch wir. Aus Hermannstadt für ein Europa der Vielfalt“; siehe ADZ vom 10. März 2020) zu debattieren versucht. Leider missglückte es der veranstaltenden Allianz USR-PLUS an diesem Abend, die Podiumsgäste zu überreden, genügend laut in das Mikrofon zu sprechen. Die Gedanken und Stellungnahmen Letzterer konnte man nur unter großer Höranstrengung verstehen. Trotzdem war nach Ende der Podiumsdiskussion eines klar: Die Menschen, die in Hermannstadt und Siebenbürgen leben, mögen zwar nach außen hin als friedfertig und tolerant gelten, haben aber hin und wieder auch ein Huhn mit sich selbst zu rupfen. Zu wünschen übrig ließ an diesem Abend auch die Neugierde des Publikums: Dass nur eine Handvoll Menschen sich für das Debattieren um Vielfalt interessierte, sieht der Selbstgenügsamkeit Hermannstadts ähnlich.

Wer nach Schluss einer öffentlichen Veranstaltung in der Astra-Bibliothek noch Durst hat, der ein oder anderen delikaten Frage bei einem Bier oder einem Glas Wein nachzuhängen, wird in direkter Nachbarschaft des Astra-Parks keine Gaststätte finden, die dem Bistro „Consommé“, gegenüber auf der Hechtgasse/Doctor Ioan Lupaș, das Wasser reichen kann. Koch Samuel Tatu ist nicht nur in der Küche Spitzenkönner: In der Corona-Zwangspause von Mitte März bis Mitte Mai hat er selbst zu Holzbrettern, Säge, Hammer, Meißel, Drahtbürste, Kelle, Nägeln, Schrauben, Spachtel und Quast gegriffen und seine Gaststätte nochmals nachgerüstet – im hohen Seiteneingang und anschließendem Treppenhaus mit Oberlicht warten seit Sommer 2020 weitere kleine Tische und Stühle auf Kundschaft.

Samuel Tatu hat farblich, handwerklich und raumplanerisch ganze Arbeit geleistet, darf an den neuen Plätzen aber noch keine Gäste bedienen. Trotzdem der neugestaltete Zusatzraum alle spezifischen Anforderungen beispielhaft erfüllt, lässt die Genehmigung für gastronomische Nutzung eines bisherigen Wohnabteils streng auf sich warten. Auch im Rathaus Hermannstadt scheinen die Mühlen nicht schneller als im übrigen Rumänien mahlen zu wollen. Für die nur über eine steile Holztreppe zugängliche Publikumsbibliothek, die der kulturell belesene Küchenfreak im kleinen Dachbodenraum des „Consommé“ einrichten möchte, hat außer ihm selbst und seinen Stammgästen kaum jemand in Hermannstadt etwas übrig. Aktivität hoch oben im Festsaal der Astra-Bibliothek und der Büchermansarde des Bistros „Consommé“? Die Corona-Pandemie verträgt sich schlecht mit der Gewohnheit, uneingeschränkt in öffentlichen Bibliotheken ein- und auszugehen.

Rumänien hat 2020 nicht verbergen können, dass seine Politiker ungleich lieber über Leichen statt über Bücher gehen. Nur hat Corona die Totenzahlen merklich in die Höhe schnellen lassen, was manch einen zu Rede und Antwort verpflichteten Staatsmann um die sonst so geruhsam verfügbare Bedenkzeit gebracht hat. Den Bandsalat der aktuell sperrigen Lebenswirklichkeit, die im Fernsehen zusätzlich aufgebauscht statt aufgedröselt wird, haben bislang weder die an der Macht Stehenden noch die Opposition entwirrt.

Wo Suceava im Frühjahr 2020 angelangt ist, hat Hermannstadt im Spätherbst weitergemacht. Der Phantomschmerz, einander weder in der Astra-Bibliothek noch im Bistro „Consommé“ live zu einer Lesestunde oder Debatte treffen zu können, will einfach nicht lockerlassen. Die Angst, nur noch aus dem Mund von Politikern erfahren zu können, was Sache ist, verfolgt einen im Astra-Park auf Schritt und Tritt. Wer – frei nach Faust – erkennen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, kann von Politik allein nicht satt werden. Die Menschen in Hermannstadt unterscheiden sich nicht von ihren Mitbürgern aus dem übrigen Rumänien; wie alle erwarten auch sie von der politischen Klasse nichts anderes, als in ihrer Lebenswirklichkeit ernst genommen zu werden. Nur 120.844 von insgesamt 380.240 stimmberechtigten Bürgern aus dem Kreis Hermannstadt haben am 6. Dezember 2020 von ihrem Wahlrecht für die Aufstellung des neuen Parlaments Gebrauch gemacht. Starke 68,22 Prozent Abwesenheit am Tag eines Wahlgangs – das spricht Bände. Wo Politik von oben nach unten befohlen statt von unten nach oben empfohlen wird, sinkt das Publikumsinteresse und gehen die Schwächsten leer aus. Wie vielen Politikern aus Hermannstadt ist heute beispielsweise noch bekannt, dass zwischen dem Altbau und dem Neubau der Astra-Bibliothek das Schulische Zentrum einschließlich Wohnheim für Inklusive Bildung Nr. 2 steht, das seit Juni 1990 auf die Stütze von Frau Ehrenbürgerin Antje Schmidt-Classen sowie der Paten des Taubstummenheims Hermannstadt (Rumänien) e.V. Siegen (Deutschland) bauen kann? Da gilt die Aufmerksamkeit der Spitzenpolitiker aus Hermannstadt viel eher dem Koordinationszentrum für Epidemiologische Ermittlungen der Kreisfiliale der Gesundheitsbehörde (DSP), das seine Aktivität im selben Gebäude des Schulischen Zentrums für Inklusive Bildung Nr. 2 entfaltet.

Im pandemischen Hermannstadt des Jahres 2020 hat sich die DSP nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Wie krank eine Stadt wirklich ist, kommt aber erst richtig zum Vorschein, sobald man ihr kulturelles Leben auf Null herunterfährt. Krankenhäuser und Arztpraxen haben noch nie zu den Stärken Hermannstadts gezählt. Nimmt man einem vornehmlich kulturell starken Ort genau die Zutat weg, die ihn eigentlich ausmacht, braucht man sich auch nicht wundern, dass Menschen, die gerne in öffentlichen Bibliotheken nach der Wahrheit stöbern, der Politik nicht mehr vertrauen.