Hic svnt leones: die literarische Karte Bukarests

Spaziergang zu Treffpunkten und Zufluchtsorten der Schriftsteller aus dem vergangenen Jahrhundert

Schon vor dem Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Capşa-Haus international bei den Weltausstellungen in Wien und Paris ausgezeichnet.
Foto: capsa.ro

Das heutige Capşa- Haus ist immer noch ein luxuriöses Gebäude, aber ohne ihre ehemaligen „Leones“.
Foto: die Verfasserin

Bukarest: im Laufe der Zeit sind hier fast alle großen rumänischen Künstler vorbeigekommen. Die poetische, geheimnisvolle Seite der Stadt kann jeder entdecken: die Straßen, wo die Dichter voll Liebeskummer ihre launischen Musen gesucht haben, die Plätze, wo die Schriftsteller ihre Inspirationsquellen gefunden haben und die Wohnungen, wo die Männer der Feder eifrig nachts gearbeitet haben. Die goldene Zeit Bukarests ist die Zwischenkriegsperiode, die genau so unkonventionell ist wie die ganze Literatur dieser Periode. Hortensia Papadat-Bengescu fuhr in einer Kutsche am Icoanei-Garten vorbei, Camil Petrescu war fast immer im Capşa-Haus erreichbar. Mihail Sadoveanu ging in der Nähe der Pitar-Moş-Straße spazieren, wo er wohnte. Als Gellu Naum Philosophie an der Universität studierte, setzte die Gruppe der Surrealisten (Victor Brauner und Saşa Pana) unerhörte Ideen in die Tat um – nicht nur in der Literatur, sondern auch im Alltag. Damals versammelten sich die Jungen in der Wohnung eines von ihnen, wo sie Absinth tranken, mit Mystizismus spielten, literarische Experimente machten, ihre Texte lasen und literarische Revolutionen planten.

Das Capşa-Haus auf der Calea Victoriei

Der Dichter Tudor Arghezi war der Meinung, dass Capşa das einzige Lokal für Intellektuelle auf der Calea Victoriei war. Der typische Capşa-Kunde war klug, aber auch gefährlich. Alle „Leones“ Bukarests konnte man hier finden. Mit Intelligenz als höchster Waffe fanden wahre Kriege statt, deren Helden die rumänischen Schriftsteller waren: „La Capşa, unde vin toţi seniorii/ Local cu două mari despărţituri:/ Într-una se mănâncă prăjituri,/ Într-una se mănâncă scriitorii“ („Ins Capşa-Haus kommen alle Senioren/ Das Lokal hat zwei große Abteile:/ In einem isst man Kuchen,/ Im anderen fressen sich die Schriftsteller“).

Das Lokal galt als Symbol der modernen rumänischen Elite, Treffpunkt für nationale und internationale Politiker, für Persönlichkeiten aus verschieden Bereichen, sei es Journalismus, Kultur oder Kunst und eben auch die schönsten Frauen. Es liegt im Zentrum Bukarests, an der Kreuzung der Calea Victoriei und der Edgar-Quinet-Straße und diente in der Zwischenkriegszeit als Zwischenstation vieler Diplomaten und ausländischer aristokratischen Familien während ihres Aufenthalts in Rumänien. Deshalb war es für die Journalisten eine wunderbare Informationsquelle, wo man die letzten Gerüchte hören konnte. In den besten Zeiten Capşas trafen sich hier die wichtigsten Schriftsteller, da sie hier eine westliche Atmosphäre genießen konnten. Als Kind hatte Eugen Ionescu Karotten auf diejenigen geworfen, die bei Capşa rein- oder rauskamen. Jahre später traf er seine guten Freunde Emil Cioran und Mircea Eliade dort, um Kaffee mit Schnaps zu trinken, Zigarren zu rauchen und ernste oder weniger ernste Diskussionen zu führen. Im Capşa-Haus konnte man zu jeder Zeit einem zurückgezogenen Autor wie Tudor Arghezi oder dem exzentrischen Mihail Sadoveanu (mit dem modischen Hut, der Pfeife und der unverlässlichen kaiserlichen Haltung) begegnen. Als Erster kam morgens Ion Barbu, denn er konnte nur dort arbeiten. Ihm folgten Liviu Rebreanu, Camil Petrescu, Ionel Teodoreanu, Tudor Arghezi und Ion Minulescu. Der Dichter Virgil Carianopol sagte, dass „man im Capşa getauft werden sollte, um Schriftsteller zu werden, da es die Redaktion der Redaktionen war. Wer nicht ins Capşa-Haus geht, existiert nicht als Schriftsteller“. Die wahre Kritik wird im Capşa ausgeübt, nicht in der literarischen Presse. Capşa sei der Platz, wo Diskussionen und Debatten von mehreren Generationen von gescheiten Menschen mit scharfen Zungen geführt wurden, meinte Radu R. Rossetti. Leider ist der Capşa-Glanz mit den damaligen Generationen von Literaten verschwunden. Die damalige Stimmung des Capşa-Hauses ist seit langem nicht mehr dieselbe, es gibt keine anerkannten „Capşisten“ mehr. 

In der Periode vor dem Ersten Weltkrieg gab es noch ein anderes Lokal, das von Bukarester Künstlern bevorzugt wurde und das heute nicht mehr existiert. An der Stelle des Palastes der Telefone befanden sich das Café, die Kneipe und der Biergarten der Familie Oteteleşeanu. Hier kamen nicht nur die Schauspieler des benachbarten Nationaltheaters, sondern auch Mihai Eminescu, Titu Maiorescu, Alexandru Marghiloman, Tudor Arghezi und George Coşbuc vorbei. Um ins High Life Bukarests einzutreten, musste man erst hier vorbeikommen. Unerlässlich waren die Manieren, das Auftreten und die Konversationskunst. 

Piaţa Amzei und die Mântuleasa-Straße

Während des Kommunismus hat die literarische unkonventionelle Gruppe an Kraft verloren, aber in den sechzigern Jahren konnte sie wieder – dank Vertretern wie Nichita Stănescu, Marin Sorescu oder Fănuş Neagu – an Boden gewinnen. Treffpunkt war das Restaurant des Rumänischen Schriftstellerverbandes auf der Calea Victoriei im Monteoru-Haus. Die Hierarchie war aber auch hier streng: die wichtigsten Schriftsteller hatten ihre eigenen Tische, an die man sich ohne Einladung nicht setzen durfte. 
 Nichita Stănescu hat in der Nähe des Monteoru-Hauses in der Piaţa Amzei Nr. 9 acht Jahre lang gewohnt. Auf dem Balkon seiner Wohnung hing das Plakat „Hic svnt leones“ („Hier sind die Löwen“, im Mittelalter ein Synonym für wildes, noch ungezähmtes Terrain). Hier fanden zahllose Dichterversammlungen statt, die Tür mit der Nummer 16 war immer offen und jeder war willkommen. Viele junge Poeten, die die Anerkennung des berühmten Dichters brauchten, kamen oft vorbei, nur die Nachbarn waren nicht immer glücklich mit den bis spät in die Nacht dauernden Besuchen. Man sagt, der Schriftsteller hatte in seiner Nachbarschaft nur einen sehr guten Freund: Gică, eine Robinie. Man sagt, dass ein Nachbar dem Dichter eines Tages vorgeworfen hätte, er sei mitschuldig für seine gescheiterte Ehe. Die Frau hätte den Nachbarn verlassen, nachdem der Dichter ihr die berühmten Verse rezitiert hätte: „Wenn ich deine Fußsohle küsste, würdest du nicht ein wenig hinken, damit du meinen Kuss nicht zerquetschst?“ Geht man heute auf der Piaţa Amzei, so entdeckt man keine Spur mehr von Gică und auch das Plakat mit der mittelalterlichen Inschrift ist verschwunden. 

Auch der weltbekannte Schriftsteller und Religionswissenschaftler Mircea Eliade ist in Bukarest aufgewachsen. Als Kind hat er in der Mansarde des Hauses auf der Melodiei-Straße (heute Radu Cristian) Nr. 1 gewohnt. Hier began er auch, seine Jugendwerke zu schreiben. Manche Handlungen aus „Romanul adolescentului miop“ („Der kurzsichtige Jüngling“) haben diese Mansarde als Hintergrund. Jetzt sucht man vergeblich die Mansarde, an Stelle des Elternhauses von Eliade steht ein mehrstöckiger Block. In seinen Memoiren schreibt Eliade:“Ich konnte mir Bukarest ohne meine Mansarde in der Melodiei-Straße nicht vorstellen. Ich wusste, dass ich viele Jahre abwesend sein werde, aber ich war mir sicher, dass ich die Mansarde wieder finden werde, in der ich aufgewachsen bin.“Als er zurückgekommen ist, konnte Eliade die Veränderungen nicht akzeptieren, deshalb schuf er seine eigene Topografie der Stadt, die Wirklichkeit mit Fantasie verbindet. Eliade erzählt in seinen Werken über eine magische Stadt Bukarest, voller alter Geheimnisse: „Auf der Mântuleasa-Straße“, „Bei den Zigeunerinnen“, „Im Hof bei Dionis“. In Eliades Prosa überlappt sich der mythische Weg mit einem städtischen Labyrinth, zu dem die Mântuleasa Straße aus dem Stadtviertel mit demselben Namen gehört.

Liviu Rebreanu und seine Ehefrau, Fanny Rădulescu, haben in demselben Wohnblock mit Eugen Lovinescu gelebt, am Kogălniceanu Boulevard. Der schüchterne Tudor Arghezi hat sich seine eigene Welt in der Mărţişor-Straße aufgebaut, ein Ort, der damals zum Stadtrand der Hauptstadt gehörte. 

Die Periode vor dem Ersten Weltkrieg

Auch der Dramatiker I. L. Caragiale hat im Verlauf von 35 Jahren an mehreren Orten in Bukarest gewohnt, die Maria-Rosetti-Straße, die Armenească-Straße, die Rotari Straße (die jetzt I.L. Caragiale heißt) und die Berzei-Straße sind nur ein paar Beispiele davon. Die von unbeschwerter Fröhlichkeit erfüllte Skizze „Dl Goe“ endet beispielsweise mit dem Hinweis „Zum Boulevard, Kutscher, zum Boulevard!“ und bezieht sich auf den Boulevard Regina Elisabeta, den ersten (und in früheren Zeiten einzigen) Boulevard Bukarests. 
Über Bukarest hat ebenfalls sein Sohn, Mateiu Caragiale, in „Craii de Curtea Veche“ geschrieben.
Fein und bis in kleinste Einzelheiten rekonstruiert der Roman eine verblühte Bukarester Gesellschaft voller Dekadenz aus der Periode vor dem Ersten Weltkrieg. Die Hauptstadt ist dieses Mal ein mythischer Raum im Zeichen von Obszönität, Schwermut und Trivialität. Die Hauptfiguren erleben ihre Dramen in wenig gepflegten, verrufenen Gaststätten wie „Durineu“, „Hanul dracului“, „La Niţă“, aber auch in wohlbekannten Lokalen wie „Capşa“ oder „Caru’ cu bere“.

Diese Zeiten sind vorbei. Die Plätze haben sich verändert oder existieren gar nicht mehr und die genannten Schriftsteller sind seit langem gestorben. Das bedeutet aber nicht, dass die „Leones“, seien es Künstler, Schriftsteller oder Casanovas, verschwunden sind – sie haben nur andere Handlungsspielräume gefunden. Also aufpassen, man weiß nie, wo man ihnen begegnen kann. Wer Augen hat, der sehe!