Wer den heutigen öffentlichen Diskurs (die Unterschiede zwischen Ost und West – Ausnahmen Ungarn und Polen – sind bloß Nuancen) nicht taub und blind zur Kenntnis nimmt (oder von sich abperlen lässt), der wird rasch feststellen (müssen), dass der Wortschatz der (auch Möchtegern-)Meinungsmacher sich ziemlich radikal gewandelt hat (Heinrich Heines genialer Reim auf „radikal” lautet: „ratzekahl”!). Der Diskurs dreht sich fast ausschließlich um die Covid-19-Pandemie, dabei geht es nicht nur um die Wortwahl, sondern auch um die Richtung und die Absicht der Botschaft(en).
Wir erleben eine Zeit der Diktate (oder sind die die grundlegenden Menschenrechte ignorierenden Militärverordnungen Rumäniens etwas anderes als Diktate in der Scheindemokratie verhinderter Diktatoren?), der Weissagungen selbsternannter Propheten, des Herumtappens im Dunkeln auch von renommierten Wissenschaftlern, der Einsamkeit und Langeweile (darüber ist an dieser Stelle ausführlich Vintilă Mihăilescu zitiert worden) und der Angst, die zur Summe der Empfindungen vieler geworden ist. Alle haben ihre eigene Sprache, mit eigenem Diskurs.
Am einflussreichsten, weil auf oberflächlichen Empfang und Beschränktheit des Empfängers setzend, scheint mir der „Verschwörungsdiskurs”, dem die sozialen Netzwerke in ihrer schrankenlosen Meinungsvielfalt entgegenkommen. Verschwörungstheorien haben oft eine kaum zu widerlegende Logik, die ausgeht von auf der Hand liegenden Realien und deshalb Glaubhaftigkeit als Plattform benutzt. Ihre Grundaussage: alldas ist eine Täuschung, eine geschickte Fälschung, der Russen gegen die Amerikaner, der Chinesen gegen die Amerikaner, der Amerikaner gegen Russen und Chinesen, aller drei gegen die Europäer, der Akteure der Neuen Weltordnung, vereinigt unter der Devise der Inschrift auf der Ein-Dollar-Note „Novus ordo seclorum”, der Medikamentenmafia, der Schlitzohren mit Geld, die versuchen, die Weltherrschaft zu übernehmen usw. Fazit: Das Coronavirus ist das Instrument einer kleinen Gruppe, die nach der (Welt)Macht strebt und der zur Erreichung ihres Ziels jedes Mittel recht ist. Oder einer Gruppe, die paradoxerweise zum Erreichen der Macht über die Welt erst mal einen Teil der Welt vernichtet.
Irgendwie verwandt mit diesem Diskurs ist der „Weltuntergangsdiskurs”. Zur Apokalypse (gr.„Enthüllung“, „Entschleierung“, im Christentum „Offenbarung“, später umgedeutet in „Gottes Gericht“, „Weltuntergang“, „Zeitenwende“ und „Enthüllung göttlichen Wissens“) gibt es viele Argumente, wissenschaftliche oder prophetische. Das Weltenende argumentierten bereits jüdische Propheten ab dem 8. Jahrhundert v.Chr. – jetzt wird der Weltuntergang zu „Breaking news”. Auch diese Argumentation geht von Realien aus.
Es gibt auch den „Diskurs der Abgeklärten“, den „Weisheitsdiskurs”, mit einem politisch-diplomatischen Touch und politischem Primitivtrost: „Nichts dauert ewig“. „Alles wird wieder gut”. „Auch das werden wir noch überleben“. „Richtet euch zuhause möglichst bequem ein, bis es vorübergeht, Hauptsache, ihr habt eure `Eidesstattliche Erklärung` ausgefüllt und den Ausweis dabei.“
Alldas wäre durch seine Falschheit weniger abstoßend, wenn man „es“ auf eigene Initiative tun würde, nicht aufgrund von Militärverfügungen (=Diktatur!), die nie richtig ausgegoren sind, weil wohl nicht von den abgeklärtesten Köpfen der Nation ausgearbeitet... Deshalb pausenlose Nachbesserungen.
Auszumachen ist auch der Rechthaberhabitus, der aus dem Konflikt die Lösung macht, mit ideologisierendem Diskurs. „Das habt ihr nun von der Globalisierung!“ „So geht´s zu im Kapitalismus: plötzlich ufert er aus und bedroht die ganze Menschheit!“ „Ein unsichtbares Nichts zeigt dem ewigen Sieger Mensch, seinen Institutionen, seinen Politikern und Wissenschaftlern und seiner Demokratie ihre Grenzen auf!“
Covid-19: Hoch-Zeit für Propheten.