Ein dichter Nebel schwebt träge über der Stadt und hüllt Straßen, Häuser und den Kirchturm in ein geheimnisvolles Grau. Am stillen Sonntagmorgen scheint die Welt darin zu verschwinden, als ob die Zeit für einen Moment innehalten würde. Doch plötzlich erwachen die Glocken der Sankt-Georgs-Kathedrale mit kraftvollem Klang und lassen ihr Läuten über den stillen Domplatz hallen. Ihr rhythmisches Echo trägt sich durch die Morgenluft und ruft den neuen Tag in das Herz der Stadt.
Der Hohe Dom zu Temeswar/Timișoara, die römisch-katholische Kathedrale, ist allerdings schon längst wach. Denn bereits um 9 Uhr hat Priester Nikola Lauš, Domherr und Ökonom des Bistums Temeswar, die Heilige Messe in ungarischer Sprache zelebriert. Es ist kurz vor 10 Uhr und der Gottesdienst in deutscher Sprache beginnt. Zelebrant ist erneut Domherr Lauš, und ebenfalls er wird auch die Heilige Messe in rumänischer Sprache nur eine Stunde später feiern. Im Banat, der multiethnischen und –kulturellen Region in Westrumänien, ist die Mehrsprachigkeit vieler Ortseinwohner eine Selbstverständlichkeit. Das Interessante dabei: Nikola Lauš ist eigentlich kroatischer Ethnie - er stammt aus Lupak im Banater Bergland. Sein Lebensweg führte ihn nach Abschluss des Theologie-Studiums in Karlsburg/Alba-Iulia nach Fulda, Deutschland, wo er für fast ein Jahr lebte und wirkte.
An die 50 Menschen wohnen am Adventssonntag dem Gottesdienst in deutscher Sprache bei. Das kalte Wetter ist allgemein ein Faktor, der sich dem Kirchenbesuch in die Quere stellt, egal, um welchen Gottesdienst es sich handelt. „Im Sommer oder zu besonderen Feiertagen sieht es natürlich anders aus, da ist der Dom voll – da kommen auch Menschen, die beispielsweise Urlaub im Banat machen“, erklärt Nikola Lauš. An die 400 deutschsprachige Katholiken leben derzeit in Temeswar, weiß der Geistliche. Das Alter derjenigen, die die deutsche Messe besuchen, ist sehr unterschiedlich. Anwesend sind Mütter mit kleinen Kindern, junge Familien, Studenten und recht viele Menschen mittleren Alters bzw. Senioren. Die am besten besuchte Messe im Dom bleibt immer noch jene in rumänischer Sprache, hebt Nikola Lauš hervor.
Ungefähr in der Mitte, auf der linken Seite, wenn man zum Altar hinschaut, sitzt am heutigen Sonntag Familie Păscălău-Kollár. Wer regelmäßig in die deutsche Messe geht, der weiß, dass dies ungefähr der Sitzplatz der jungen Banater Familie ist. Für Familienvater Adrian (35), der als Projektmanager bei einem multinationalen Unternehmen in Temeswar arbeitet, ist der erste Adventssonntag 2024 ein besonderer Tag. Sein neunjähriger Sohn, Emanuel-Zoltán, ministriert erneut in der Domkirche, und die ganze Familie darf ihm dabei zuschauen: Klára-Hajnalka, Adrians Frau, und der sechsjährige Bruder Michael-Sebastian. In Adrians Familie wurde dem katholischen Glauben schon immer große Bedeutung beigemessen. „Ich ging schon als Kind gerne zur Messe und an den Sonn- oder Feiertagen, an denen ich es nicht schaffte/schaffe, fühle ich, dass etwas fehlt. Der Messebesuch ist der Moment des Innehaltens, des Dankes aber auch der Moment zum Kraft-Tanken für den Alltag“, sagt der in Lippa/Lipova im Kreis Arad gebürtige Adrian Păscălău-Kollár. Und fügt dabei hinzu, sichtbar stolz: „Dass wir nun alle zusammen als Familie den Gottesdienst besuchen ist ein Faktor mehr, den ich als wichtig für uns verspüre, dass wir die Gelegenheit haben, diese Zeit zusammen für Gott und mit Gott zu verbringen“.
Deutsche Gottesdienste gibt es in Temeswar nur noch an drei Orten. Außer dem deutschen Gottesdienst in der Domkirche wird ein solcher in der Elisabethstädter Pfarrkirche, wo die Salvatorianer-Padres beschäftigt sind, und in der Josefstadt, wo Pfarrer Zsolt Szilvágyi aktiv ist, zelebriert. Selbst Adrian Pășcălău-Kollár erinnert sich daran, dass er nach seinem Umzug nach Temeswar die deutsche Messe in der Fabrikstadt besuchte, um später, nach deren Abschaffung, in die Elisabethstädter Kirche zu gehen. Die Tatsache, dass in so vielen Kirchen keine deutschen Messen mehr gehalten werden, lässt sich auf die schrumpfende Zahl der Deutschen in Temeswar zurückführen. Heute leben – so die Daten der Volkszählung von 2021 – nur noch an die 2100 Deutsche in Temeswar, davon sind zwar die meisten katholisch, doch nur eine recht geringe Zahl geht auch regelmäßig in die Kirche. Insgesamt leben in Rumänien nur noch etwa 22.900 Deutsche (Anm. Red.: offiziellen Zahlen zufolge, umstritten wegen den Mängeln bei der Volkszählung) – in der West-Region Rumäniens mit den Verwaltungskreisen Temesch, Arad, Karasch-Severin und Hunedoara sollen es ungefähr 8500 sein.
Mit feierlicher Ruhe wird im Dom die erste Adventskerze im großen Adventskranz links vor dem Altar angezündet, ihr flackerndes Licht symbolisiert Hoffnung und den Beginn der erwartungsvollen Zeit. Die Gemeinde versinkt in einen Moment der Besinnung, während leise Gebete und der sanfte Klang des Kantors Robert Bajkai-Fábian, der auch den Exultate-Chor leitet, die andächtige Atmosphäre untermalen. Ganz hinten rechts, wie man zum Altar hinschaut, sitzt immer Franz Wissenz, der aus Sanktandres/Sânandrei im Kreis Temesch stammt. Sein freundliches Lächeln lässt das dreijährige Mädchen, das in der Reihe vor ihm sitzt, glücklich auf Rumänisch ausrufen: „Îmi place de el!“ („Ich mag ihn!“). Der 67-jährige Banater Schwabe, einstiger Unternehmer, ist mittlerweile Rentner und lebt teils in Deutschland, teils in Rumänien. Immer, wenn er in Rumänien ist, besucht er sonntags die deutsche Messe im Dom. „Für mich ist es ein Ruhepol. Wenn ich die Kirche verlasse, bekomme ich das Gefühl, dass ich ruhiger bin. Die ganzen Gedanken, die im Kopf herumschwirren, sind dann nicht mehr so viele“, sagt er. Rita Lache, eine 66-jährige Rentnerin, besucht seit ihrer Kindheit die deutsche Messe – ihre Mutter, geborene Schmidt-Pacha, war eine Nichte des Schwabenbischofs Augustin Pacha (1870 – 1954). Auch sie spricht von einem ähnlichen Gefühl beim Verlassen der Domkirche nach dem sonntäglichen Gottesdienst in deutscher Sprache. „Ich habe dann eine Ruhe, die mir gut tut“, sagt sie.
Fast immer bei der deutschen Messe im Dom dabei ist auch die deutsche Konsulin in Temeswar, Regina Lochner. Da sie katholisch ist, ist für sie der Kirchenbesuch selbstverständlich. „Der Besuch der Messe gibt mir Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen und den Kopf auch wieder ein wenig frei zu machen“, erklärt die Konsulin, die meist eine der Lesungen, die im Rahmen der Messe gelesen werden, vorträgt. Sie singt viele der Kirchenlieder mit. „In Deutschland wird die Heilige Messe je nach Gemeinde sehr unterschiedlich gefeiert, und man geht eher dorthin, wo man sich auch innerlich aufgehoben fühlt. Die Messe im Temeswarer Dom ist würdig, konzentriert und immer mit Blick auf den wesentlichen Gehalt. Darüber bin ich sehr froh“, sagt die deutsche Konsulin in Temeswar.
Der Gottesdienst am ersten Adventssonntag endet mit dem feierlichen Segen des Priesters, während die erste Adventskerze weiterhin ruhig brennt und ihren warmen Schein auf den Altar wirft. Der Kantor singt ein hoffnungsvolles Schlusslied, das die Freude auf die kommende Weihnachtszeit spürbar macht. Langsam beginnen die Gläubigen, die Kirche zu verlassen, begleitet vom Klang der Orgel, die den Raum noch einmal mit festlichem Nachhall erfüllt. Am Ausgang stehen mehrere Adventskränze, die die Messebesucher kaufen können – sie wurden im Kirchenladen „Cadouri din Rai“ (Geschenke des Himmels) in der Josefstadt hergestellt. Außerdem kann man Gebetbücher in drei Sprachen – Deutsch, Rumänisch und Ungarisch – sowie Devotionalien am Stand des Bistums Temeswar beim Eingang in der Domkirche finden, sowie Objekte und Bücher, die unlängst gedruckt wurden. Mehrsprachige römisch-katholische Kalender für 2025 sind ebenfalls bereits erhältlich.
Die letzten deutschsprachigen Katholiken verlassen die Sankt-Georgs-Kathedrale, während die Gläubigen, die der rumänischen Messe beiwohnen wollen, so langsam die Kirche füllen. Vor dem Tor begrüßt die kalte Dezemberluft die Menschen, die die deutsche Messe besucht haben. Sie sind zwar eine kleine Gemeinschaft, doch sie lassen den katholischen Glauben als deutschsprachige Gemeinschaft nicht untergehen. Und tragen nun in ihren Herzen auch noch das Licht und die Botschaft des Advents hinaus in die Welt.