In Deutschland musst du Deutsch sprechen!

Symbolfoto: sxc.hu

1977 reiste ich auf abenteuerlichem Wege aus Rumänien nach Deutschland aus. Zwei Jahre später, als mir meine Frau und meine dreieinhalbjährige Tochter nachreisen durften, begab ich mich zum Frankfurter Flughafen, um auf sie zu warten. In dem wöchentlich aus Bukarest kommenden Flugzeug saßen jedes Mal einige Auswanderer aus dem Osten, mit Kind und Kegel. Und mit himmelhohen Erwartungen auf ein sonniges Leben.

„Lass dich nicht BRDigen!“, las ich unterwegs zum Flughafen auf einer Frankfurter Fabrikmauer aus roten Ziegeln. Doch ganz im Gegensatz zu diesem witzelnden Sponti wollten sich die herbeiströmenden Aussiedler offensichtlich ausgesprochen in der BRD und nirgendwo anders unter die Erde bringen lassen. Mein Freund Hartwig, der vor fünf Jahren über Bulgarien und die Türkei nach Frankfurt geflüchtet war, begleitete mich zum Flughafen. Ich kannte ihn aus Temeswar, wo er Englisch und ich Französisch studiert hatte, und wir uns immerfort nicht nur mit Shakespeare und Voltaire, sondern auch mit den zahlreichen in der Uni-Gegend liegenden Kneipen gründlich auseinandergesetzt hatten.
 
Hartwig stammte aus Perjamosch, einem schwäbischen Dorf neben Temeswar, wie die zwei in der Wartehalle neben uns stehenden Männer, die uns begeistert begrüßten. Sie hatten einen Kasten Bier mitgebracht, und nun standen sie gespannt vor dem Ausgang, einen Blumenstrauß in der einen Hand, einen Flaschenöffner in der anderen, und warteten auf ihre Liebsten. Endlich in der Freiheit angekommen, auf deutschem Boden, sollten sich diese erst einmal einen hinter die Binde gießen, und dann noch einen, um Schluck für Schluck herauszufinden, wie berauschend die Freiheit sein konnte.

Nach und nach strömten die Fluggäste in die große Wartehalle, heiße Tränen flossen die Wangen herab und kühles Bier die Kehlen hinunter , nur ich stand mutterseelenallein da und fixierte erwartungsvoll die Ausgangstür, aber vergeblich.
„Nur keine Panik! Karin und Anne kommen noch. Solche Pannen passieren immer wieder“, meinte Hartwig, der bereits des Öfteren Bekannte zum Flughafen begleitet und solch dramatischen Szenen beigewohnt hatte. Plötzlich hallte eine laute, zweifach wiederholte Durchsage durch die Ankunftshalle und forderte mich namentlich auf, mich umgehend zum Informationspunkt im Erdgeschoss zu begeben. Und siehe da, vor dem Info-Desk warteten bereits meine Frau Karin und meine Tochter Anne auf mich, begleitet von einer Mitarbeiterin des Roten Kreuzes. Sie hatte sie bereits an der Gepäckausgabe empfangen und auf Nebenwegen hierher geführt.

Ich lief auf die beiden zu, aber sie sahen mich nicht. Anne weinte. Karin, über sie gebeugt, redete auf sie ein, und als sie mich dann plötzlich entdeckte, strahlte sie über das ganze Gesicht. Ihr charmantes Lächeln, das ich seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte, war mir wohl vertraut, wie auch das hübsche Blumenkleid, das ich ihr vor zwei Monaten in einem Paket aus Düsseldorf zugeschickt hatte. Aus diesem Paket stammte wohl auch das grüne Gummibärchen, dessen Kopf Anne überrascht abbiss, als sie mich vor sich stehen sah. In Wirklichkeit war ich hundertmal größer als auf den winzigen Fotos, die sie so oft gesehen hatte. Das hätte sie nicht erwartet.

Wir umarmten und küssten uns, wie in einem Hollywood-Film mit Happy End, obgleich der Hauptteil des Films gerade erst anfing. Dann begannen wir, uns zu unterhalten. „In Deutschland musst du aber Deutsch sprechen!“, ermahnte die Rote-Kreuz-Mitarbeiterin Anne. Und meinte dadurch vor allem meine Frau und mich.  Das Ulkige an der Sache war, dass wir es bereits taten, wir sprachen Deutsch. Schade nur, dass die Rote-Kreuz-Frau es nicht merkte, unser Banater-Bergland-Dialekt kam ihren hessischen Ohren ziemlich Spanisch vor.

So ist das eben mit den Dialekten, bei deren Einordnung kann man ganz schön durcheinander kommen.
Anne verlor nach ihrer Ankunft in Deutschland rasch ihren fremden Akzent, während bei uns die Sache etwas anders aussah. Erwachsene, die in ein fremdes Land auswandern, verlieren ihren Akzent nie, oder, wie es so schön heißt: Ein Emigrant ist einer, der alles verloren hat, bis auf seinen Akzent. Aber auch Leute, die ihr Leben lang daheim bleiben, haben es akzentmäßig nicht leicht. Mein Freund Thomas zum Beispiel ist in Düsseldorf geboren und hat diese Stadt noch nie länger als zwei Wochen verlassen. Doch letzten Mittwoch wachte er mit einem rumänischen Akzent auf, den er bis zum späten Nachmittag nicht loswurde. Die Ursache dafür lag im Dunkeln, aber vermutlich hatte es etwas damit zu tun, dass er am Abend zuvor in einer Pizzeria aus Eller eine Pizza gegessen hatte, mit noch mehr Knoblauch, als die sich vor Dracula schützenden Rumänen.