Mit Stock und Zylinder durch Bukarest

ARCEN organisiert eine geistreiche und witzige Stadtführung durch die Hauptstadt

Der Stadtführer erklärt den zahlreichen Zuhörern die Ereignisse, die im Laufe der Zeit in den Gebäuden auf der Calea Victoriei stattgefunden haben.
Foto: die Verfasserin

Samstagvormittag stehen zwei lächelnde Jungen mit volltönenden Stimmen und hohen Zylinderhüten vor dem Athenäum. Im Rahmen der Stadtführung für Fußgänger auf der Calea Victoriei sprechen sie über die Gebäude in dieser Gegend und deren Verbindung zu der Vergangenheit Bukarests. Den Schaulustigen liegt eine anscheinend banale Anreihung von älteren grauen Gebäuden vor Augen, aber schrittweise nehmen die Teilnehmer Abstand von der gegenwärtigen Calea Victoriei. Doch den verlorenen Glanz Bukarests kann man gleich dank einer  spannenden Fantasiesübung erleben. Als Einführung stelle man sich Damen mit langen Röcken vor, begleitet von Herren im Abendanzug, die den täglichen Spaziergang entweder nachmittags oder abends absolvieren. Vor dem Unabhängigkeitskrieg 1877  hieß die breite Straße, die Bukarest durchquerte, Podul Mogo{oaiei. Auf der heutigen Calea Victoriei wurde über alles Mögliche gesprochen: Politik, Gastronomie oder Liebe. Die Calea Victoriei war der Hintergrund für die ersten Küsse, von denen die Eltern nichts wussten. Man sieht schon die leuchtenden Gästehäuser, Terrassen, Theater, Läden oder Konditoreien in der Umgebung, die von Frauen und Männern aus der Oberschicht besucht wurden. Man entdeckt plötzlich die schöne Architektur der Gebäude, von der französischen und deutschen Baukunst stark beeinflusst. Verfügt man über all diese Informationen, so erscheint einem die Gestaltung der Gebäude kohärent und  bewundernswert.

Der Zyklus der Informationsweitergabe wiederholt sich in kleineren Kreisen: Zur zahlreichen Zuhörerschaft gehört auch ein Opa, der seine Enkelin an der Hand hält und ihr geduldig und in einfachen Worten erklärt, was der Sprecher gerade gesagt hat. Gleichzeitig werden den Ausländern dieselben Informationen auf Englisch oder Französisch überliefert.

Auch diejenigen, die diesen Sprung zurück in die Vergangenheit ermöglichen, strahlen Freude aus. Sie nehmen ihre Aufgabe sehr ernst und genießen sie zur gleichen Zeit: die damalige, ausgelassene Atmosphäre wird Sekunde für Sekunde durch den archaisierenden Wortschatz und das Lokalkolorit bis in alle Einzelheiten rekonstruiert.

Der „superfripturist“ und die Veränderung des Lebensrhythmus

Während der Stadttour wird unter anderem ein lustiger Überblick über das Leben der Bukarester in der Zwischenkriegszeit geboten. Die Stadtführer zählen auf, was damals zum Alltagsleben der  Bukarester gehörte:  Filterkaffee, Zeichentrickfilme, literarische Preise und Jurys mit namhaften Persönlichkeiten, die U-Bahn – aber nur als Projekt –, Konflikte zwischen Generationen und Parteien, zweiteilige Badeanzüge, Zugticketermäßigungen, „Fripturisten“(eine Art balkanisches Schlitzohr – mit der Steigerungsform „superfripturist“), Ford-Fahrzeuge, französische Parfüms, ausländische Zeitschriften am Kiosk, Flugzeugreisen von Băneasa aus, Pferderennen und Jockey-Club, Bayer-Aspirin, Suchard-Schokolade, internationale Hockeyspiele und „joie de vivre“.

Eine erwähnenswerte Anekdote bezieht sich auf die Beschleunigung des Lebensrhythmus und die  damit verbundenen Zeitverkürzungen. Zwei Episoden aus dem Jahre 1900, bzw. 1930 werden dargestellt. Die erste Szene findet in der Lipscani-Straße statt. Eine elegante Dame steigt aus einer Kutsche, um sich sechs Meter Stoff für einen neuen Rock zu kaufen. Vor dem Laden trifft die Frau einen Herrn, der gleichgültig mit ihr eine halbstündige Konversation führt. Zu Hause bekommt die Frau einen achtseitigen Brief von ihrem Liebhaber, der sie treffen möchte. Sie antwortet in einem ebenso langen Brief, dass sie seine Einladung akzeptiert. Gegen Abend erfährt ihr Ehemann, dass sie eine Affäre hat, aber er macht keinen Skandal, da er ein guterzogener Mann ist. Also zuckt er mit den Achseln und denkt an seine eigene Geliebte. Dreißig Jahre später fährt eine Dame mit ihrem 5-PS-Fahrzeug zu dem Laden, wo sie mit dem Verkäufer streitet und 80 Zentimeter Stoff für ein Röckchen kauft. An der Kreuzung trifft sie den Kollegen ihres Ehemannes, der nur „Hello“ sagt. Im Auto findet die Frau einen Zettel von ihrem Liebhaber: „Komm um 5 Uhr. Ich liebe dich.“ Sie ruft den Liebhaber an, um ihm zu sagen, dass sie kommt. Ein paar Stunden später erfährt sie, dass ihr Ehemann sie betrügt und erschießt ihn.

Die Stadtführer sind Volontäre, die es sich zum Ziel gemacht haben, eine andere Seite von Bukarest zu zeigen, ein Bild voller interessanten Geschehnisse aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die sich in den Gebäuden auf der Calea Victoriei ereigneten. Die Bukarester sollten ihre Stadt schätzen und  lieben, meinen die Stadtführer.

„Schritt für Schritt Bukarest entdecken“

Edmond Niculuşcă, Gründer und Präsident von ARCEN, (Asociaţia Română pentru Cultură, Educaţie şi Normalitate) ist einer der beiden Stadtführer. Er erklärt das Ziel des Projektes „Mit dem Spazierstock durch Bukarest“: Die Bukarester sollten sich ihrer Stadt bewusst werden, Kultur und Tourismus werden auch miteinbezogen. Diejenigen, die während des Sommers in der Hauptstadt bleiben, werden zu Touristen in ihrer eigenen Stadt. Die Stadtführung bietet nicht nur historische Fakten und Zahlen, auch Anekdoten und kleine lustige Gedichte gehören dazu.  Demzufolge sollte man sie als eine Alternative betrachten, die Freizeit zu verbringen. Was hier betrieben wird, ist eine Art Gemeinschaftskunde, meint Edmond.

Die Stadtführung wurde gründlich dokumentiert. Für den zwei Stunden dauernden Rundgang haben zehn Volontäre ungefähr zwei Monate lang recherchiert. Es ist den ARCEN- Mitgliedern wichtig, dass sie mit jedem durchgeführten Projekt etwas Neues lernen. Alle Mitwirkenden interessieren sich für Kultur, das erkennt man an der informationsreichen Stadtführung. Gesprochen wurde über das Athenäum, über das Hotel Athenée Palace, das ehemalige Königsschloss und die Oteleşteanu-Häuser, den Platz am Odeon-Theater, die Lafayette-Galerien u. a. Die sorgfältige Arbeit des ganzen Teams wurde von den Anwesenden sehr geschätzt. Als Informationsquellen galten die Bücher über die Geschichte Bukarests von Constantin Bacalbaşa und George Potra und Zeitungen wie „Timpul“, „Adevărul“, „Universul“ oder „Tribuna“. Durch die wöchentlichen Stadtführungen stellt der Verein direkten Kontakt zu den Menschen her, die sich in Zukunft als Volontäre beteiligen können.

Was ist ARCEN?

Die Mitglieder von ARCEN sind begeisterte Studenten, Idealisten, Kulturleidenschaftler. Sie glauben an eine gut funktionierende Gesellschaft, die die echten Werte anerkennt. Die ungefähr 30 Leute aus ARCEN konzentrieren sich auf Literatur, Philosophie, Geschichte und Architektur in ihren Projekten. Sie haben Lesungen und Debatten in Partnerschaft mit dem Bauernmuseum, dem Rumänischen Kulturinstitut und der Zentralen Universitätsbibliothek organisiert. Die „Lesungen im Licht der Laternen“ finden in der Şcoala Centrală statt, ein Gebäude, für dessen Sanierung ARCEN- Mitglieder sich lange Zeit eingesetzt haben. Zu den kulturellen Abendsveranstaltungen „Tee, Kekse, Kultur und Normalität“ haben sie Persönlichkeiten wie den Essaysten und Kunstkritiker Andrei Pleşu oder den Literaturkritiker Dan C. Mihăilescu eingeladen, um verschiedene Themen zu behandeln, die wenig in den Medien debattiert werden. Der Verein hat wenige materielle Ressourcen zur Verfügung: Geld wird kaum für die Realisierung der Projekte benötigt. Allein der Enthusiasmus reicht. Ein Modell für die Gesellschaft soll der Verein sein: die Studenten wollen die Kultur bewahren, die echten Werte fördern, da aus ihrer Sicht die Institutionen, die sich damit befassen sollten, solche Aspekte vernachlässigen.

Bukarest befindet sich inmitten eines Modernisierungsprozesses; mit dem urbanen Chaos und der Passivität der lokalen Behörden gegenüber der Vernichtung der Stadtgeschichte sind die Volontäre nicht einverstanden. Die ARCEN-Mitglieder bemühen sich, die Geschichte der Hauptstadt unter den Bewohnern Bukarests wieder bekannt zu machen, um das „Gedächtnis“ der Stadt zu bewahren. Ein schwieriges Unterfangen, bedenkt man, dass das Bürgermeisteramt zahlreiche „Modernisierungsprojekte“ anstrebt. Dazu gehört auch beispielsweise der Umbau der alten Boulevards im Norden Bukarests.

Einladung zum Spaziergang

Seit zwei Jahren organisiert ARCEN die Stadtführung „Mit dem Spazierstock durch Bukarest“. Jedes Jahr werden andere Geschichten erzählt, damit die Menschen immer wieder etwas Neues über die Stadt erfahren. Der Verein hat eine kostenfreie Stadtführung für Fußgänger vorbereitet, deren Treffpunkt das Athenäum ist. Sie findet am Wochenende (samstags um 11 Uhr und sonntags um 18 Uhr) bis zum 9. September statt. Eingeladen sind die Bewohner Bukarests, aber auch ausländische Touristen, da die Führung auch auf Englisch und Französisch erfolgt.

Zwei Stunden lang können sich die Teilnehmer an der Stadttour mit vielfältigen Erzählungen amüsieren: über das Leben in der Zwischenkriegszeit, über die meistbesuchten Lokale und die damit verbundenen Liebesgeschichten, Lieder und Witze und über die Art und Weise, wie die Bewohner der Hauptstadt damals ihre Freizeit verbrachten. Stadttouren können auch während der Woche für Touristengruppen organisiert werden, eine Stadttour reservieren können Sie unter www.arcen.info.