Nationale Stereotype: Fakt oder Fiktion?

Und wie fühlt es sich an, mit solchen konfrontiert zu werden?

Wie würden Sie Italiener beschreiben? Oder Franzosen? Vielen Menschen fallen ähnliche Assoziationen ein: Ernste Deutsche, höfliche Briten, ... Einige behaupten, dass diese Stereotypen einen wahren Kern haben, während andere vor gefährlichen Vorurteilen warnen. Wie wahr sind Stereotypen über andere Länder wirklich? Und wie fühlt es sich an, mit ihnen konfrontiert zu werden?  Wir haben junge Menschen aus Europa und darüber hinaus befragt.

Die mürrischen Deutschen 

Mein Algorithmus kennt mich gut. Zu gut, wie ich eines Tages auf Instagram feststellte, als mir ein Reel ins Auge stach. Influencerin Uyen Ninh sprach über ihr Leben als Vietnamesin in Deutschland. Ein interessanter Fund, zumal ich mitten in der Recherche für diesen Artikel steckte. Doch Ninhs Urteil über mein Heimatland war nicht besonders schmeichelhaft. Ihr Fazit: „Wenn ihr jemals nach Deutschland kommt, werdet ihr feststellen, dass viele Menschen hier ziemlich mürrisch und distanziert sind.“ Ihre Worte ärgerten mich. Natürlich wusste ich, dass sie lediglich über ihre persönlichen Erfahrungen mit „Culture Clash“ sprach. Dieses Gefühl hatte ich in meinem Auslandsjahr selbst erlebt und konnte es gut nachvollziehen. Dennoch fühlte ich mich von dieser fremden Person im Internet zu Unrecht verurteilt. 

Uyen Ninh spricht in den sozialen Medien über ihr Leben als Vietnamesin in Deutschland. Manchmal führt das zu Debatten über Stereotypen.

Andere Länder, andere Sitten

Gleichzeitig konnte ich Ninh verstehen. Es ist nur natürlich, dass Menschen aus verschiedenen Ländern unterschiedliche soziale Codes pflegen. Kulturen unterscheiden sich in dem, was als offen und gastfreundlich gilt. Doch Ninhs Reel schien einen Nerv getroffen zu haben, nicht nur bei mir. In den Kommentaren wehrten sich viele deutsche Follower empört dagegen, als mürrisch abgestempelt zu werden. „Wir als Kultur haben beschlossen, dass aufgesetzte Freundlichkeit nicht wirklich freundlich ist“, verteidigte sich ein Follower. Ein anderer kritisierte: „Du bist hierhergekommen, aber alles, was du tust, ist dich zu beschweren und schlecht über dieses Land zu reden! Ich denke, das ist wirklich unhöflich.“ Doch viele stimmten der Vietnamesin zu: „Ich will nicht unhöflich sein, aber im Vergleich zu den Deutschen sind die Briten angenehmer und man hat mehr Spaß mit ihnen.“ Den Kommentaren zufolge war das Klischee, die Deutschen seien unfreundlich, weiter verbreitet als ich erwartet hatte. 

Die falsche Schublade

Wenn ich an Stereotype über Deutschland denke, kommt mir folgende Liste in den Sinn: ernst, pünktlich, organisiert, effizient und über die Maßen regelkonform. Auf die meisten Deutschen, die ich kenne, trifft diese Beschreibung sicher nicht zu. Ich persönlich lege zum Beispiel viel Wert auf Freundlichkeit und Spontanität und bin damit alles andere als allein. Das Gefühl, fälschlicherweise auf eine bestimmte Art wahrgenommen zu werden, ist etwas, das auch andere kennen. Als ich mich mit Emma (20), einer deutschen Studentin in Großbritannien, unterhielt, sagte sie: „Ich mag keine Stereotype, weil ich mich oft in eine Schublade gezwängt fühle, in die ich nicht gehöre.“ So machen mich Beiträge wie der von Ninh nachdenklich. Wie sehen mich Menschen aus anderen Kulturen? Dieses Thema betrifft alle gesellschaftlichen Gruppen. Es ist leicht, eine Liste von Stereotypen für jedes beliebige Land zu erstellen. Wie gehen also andere mit Stereotypen um? Um das he-rauszufinden, habe ich junge Menschen verschiedener Nationalitäten befragt.

Stereotype weltweit

Meine Interviewpartner nahmen Stereotype über ihr Land gerade dann ernst, wenn es um angebliche Persönlichkeitsmerkmale ging. Während seiner Europareise sah sich Matthew (21) zum Beispiel mit verschiedenen Vorurteilen über die USA konfrontiert: „faul, rückständig, fett, unauthentisch und ein bisschen dumm“. Er versuchte diese Stereotype, die ihn manchmal frustrierten, dennoch zu widerlegen: „Ich habe mein Bestes gegeben, mich im Ausland höflich und kompetent zu verhalten, damit ich vielleicht dazu beitragen kann, diese Vorurteile zu beenden.“ Stereotype können zwar kränken und Diskriminierung fördern, aber sie sind nicht immer zwingend schädlich. Wenn ein Stereotyp die Esskultur oder die Kleidung betraf, empfanden die Befragten das als weniger beleidigend und stimmten teilweise sogar zu. Sabina (21) aus Tschechien räumte ein: „Da die Tschechen pro Kopf weltweit das meiste Bier trinken, halte ich diesen Stereotyp für zutreffend.“ Freya (23) dachte Ähnliches über den englischen Teekonsum. Der Knigge im Umgang mit Stereotypen scheint zu lauten: Sich auf kleine Details konzentrieren, anstatt allgemeine Aussagen über die Persönlichkeit machen.

Große Macht, große Verantwortung

Diese Strategie ist auch in den sozialen Medien erfolgreich, wo Content über nationale Stereotype ein lukratives Geschäft ist. In den meisten ihrer Beiträge gelingt es Influencern wie Uyen Ninh, Klischees aufzugreifen, ohne gleich für eine Kontroverse zu sorgen. Clips über fehlenden Smalltalk an der Supermarktkasse oder die Unmengen an Bürokratie in Deutschland erreichen weltweit ein Millionenpublikum und lösen weit weniger Kritik aus als Videos über „mürrische“ Deutsche. Der Unterschied besteht darin, dass sich diese Comedy-Sketche nur auf kleine Teile des Alltagslebens konzentrieren. Im Gegensatz dazu besteht bei sogenannten „Real Talks“ von Auswanderern die Gefahr, ein ganzes Land schlecht zu reden. Es ist unmöglich, negative Erfahrungen in 60 Sekunden auf TikTok oder Instagram vernünftig in den Kontext zu setzen. Inhalte über die Schattenseiten des Lebens im Ausland sind deshalb besser auf Plattformen wie YouTube aufgehoben, die längere Formate zulassen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Stereotypen ist wichtig, denn Influencer haben Macht über das Image eines Landes, insbesondere bei jungen Menschen, die die Mehrheit der Nutzer in den sozialen Medien ausmachen. 

Der berühmte wahre Kern

Aber was macht Content über Stereotype in den sozialen Medien so erfolgreich? Wenn man sich die Kommentare unter Ninhs Beiträgen und ähnlichen Influencern ansieht, liegt die Antwort auf der Hand: Man kann sich mit ihnen identifizieren. Viele Follower scheinen zu glauben, dass Stereotype zumindest teilweise wahr sind. In den Kommentaren teilen sie ihre Reisegeschichten und sind begeistert, dass Influencer ähnliche Erfahrungen wie sie machen. Auch ich höre mir gerne Urlaubsanekdoten an und freue mich, wenn andere meine Beobachtungen teilen. Es entsteht ein Gefühl der Gemeinschaft. Aber nur weil Tausende von Menschen in den sozialen Medien ähnliche Stereotype über einen Ort haben, haben sie deshalb recht? Wie zuverlässig sind unsere Beobachtungen über andere Länder? 

Wie zuverlässig ist unsere Wahrnehmung?

Es ist schwer, eine zuverlässige psychologische Methode zu finden. Doch Forscher können heute mit Sicherheit sagen, dass Stereotype nicht zutreffend sind. Studien zufolge sind Persönlichkeitsunterschiede innerhalb eines Landes sechs bis zehnmal größer als zwischen Ländern. Das heißt, auch wenn viele Deutsche auf den ersten Blick zurückhaltend wirken, legen Millionen andere Deutsche viel Wert auf Offenheit. Gleichzeitig sind Abermillionen Menschen auf der ganzen Welt genauso zurückhaltend oder offen wie manche Deutsche.
Psychologen schneiden genauso schlecht ab wie Nicht-Experten, wenn sie Länder nach Persönlichkeitsmerkmalen ordnen müssen. Warum sind Menschen offenbar nicht in der Lage, zutreffende Stereotype zu bilden? Die Forschung zeigt, dass die Unterschiede dafür einfach nicht groß genug sind. Gleichzeitig kennen sich Menschen aus verschiedenen Ländern meist nicht gut genug, um subtile psychologische Unterschiede zu bemerken. Die sozialen Medien könnten hier Abhilfe schaffen. Sicher besteht auch die Gefahr, dass sie Stereotype verstärken. Aber sie sind gleichzeitig eine Chance, Menschen weltweit miteinander zu verbinden. Sich wirklich kennenzulernen ist der Schlüssel, wie man an anderen Beispielen sehen kann. Ähnlich wie zwischen Ländern sind die Unterschiede zwischen Menschen verschiedenen Alters oder Geschlechts gering. Doch mischen sich diese Gruppen mehr, man verbringt im Alltag mehr Zeit miteinander. Auch wenn Stereotype hier nicht völlig verschwinden, so sind sie längst nicht so stark wie zwischen Nationen. 

Eine Frage des Blickwinkels 

Die Wissenschaft lehrt uns, dass Kontakt die meisten Stereotype ausräumen kann. Matthew hat dies auf seinen Reisen selbst erfahren: „Ich habe sowohl in Europa als auch in Lateinamerika festgestellt, dass Menschen, die schon einmal in den USA waren, anders denken. Leute, die noch nie dort waren, urteilen am strengsten!“ Doch Kontakt reicht nicht immer. Um Stereotype zu durchbrechen, braucht es oft ein tiefes Verständnis einer Kultur und ihrer sozialen Gepflogenheiten, wie Uyen Ninhs Beispiel der „mürrischen“ Deutschen allzu deutlich zeigt. Natürlich ist es schwer, die eigene kulturelle Brille abzusetzen, bevor man sich eine Meinung über andere Kulturen bildet. Wahrscheinlich ist es gar unmöglich, die sozialen Codes, mit denen man aufgewachsen ist, vollständig beiseite zu legen. Trotzdem ist es wichtig, eine andere Kultur wirklich verstehen zu wollen, bevor man über sie urteilt. Wie immer kommt es also auf den Blickwinkel an: Auch wenn Deutsche in den Augen mancher Menschen „mürrisch“ erscheinen, sagen Stereotype vielleicht mehr über jene aus, die sie verbreiten.

Dieser Text ist im englischen Original auf Eustory History Campus erschienen: 
historycampus.org/2024/the-geography-of-stereotypes/