Österreich: die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält

Deutschsprachige Journalisten zur Schräglage der zerrissenen Republik

Hans-Peter Siebenhaar: „Österreich. Die zerrissene Republik“, Orell Füssli, Zürich, 2017

Rainer Nowak, Norbert Mayer: „Zur Schräglage der Nation. Österreich in 20 Feuilletons“, Molden Verlag, Wien, 2017

Waren Sie schon mal in der Wiener Innenstadt? 1. Bezirk, Wollzeile, zum Beispiel. Gleich neben dem Doktor-Karl-Lueger-Platz serviert „Plachutta“ den besten Tafelspitz, den es in Wien geben soll. Haben Sie vergessen, bei „Plachutta“ zu reservieren, versuchen Sie es doch in der Nähe, beim Figlmüller, in derselben Wollzeile. Aber Achtung: Eine Reservierung wäre auch dort angebracht, sonst stehen Sie mit vorlauten Spaniern und Italienern in der Schlange und nicht selten drängen sich diese vor, denn Figlmüllers Schnitzel ist das Drängeln wert. Am Ende macht´s auch ein Käsekrainer vor der Staatsoper. Oder, wenn man ein bisschen Glück hat und einen engen Tisch noch ergattern kann, ein paar Sacherwürstel im Café Hawelka. Übrigens gibt es dort weiterhin die berühmten Buchteln, der Sohn und die beiden Enkel der werten Frau Josefine Hawelka backen sie nach altbewährtem Rezept.

Ein mitteleuropäisches Feinschmecker-Paradies dieses Wien, Hauptstadt der Insel der Seligen. Das bessere Deutschland, wie es hieß. Die wohlhabende und einflussreiche Alpenrepublik. Das kleine Österreich, Nachlassverwalter des großen Habsburgischen Reichs. Diesem Österreich fehlen die 600 Jahre Habsburg nicht, die für das Gelingen der Salzburger Nockerln unabdingbar sind, wie Friedrich Torberg in seiner „Tante Jolesch“ festhielt. Egon Friedell, der Kulturphilosoph, soll dies einem reichsdeutschen Ehepaar gesagt haben, das darauf bestand, dass der Koch das Rezept der Süßspeise preisgibt.

Aber es gärt in der Alpenrepublik, in- und ausländische Journalisten sind sich einig darüber, dass die Nation im Herzen Europas aus dem Tritt kommt. Österreich stecke in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. In der allgemeinen Weltunordnung sei das Land keine Insel der Seligen mehr, sondern nur jene kleine Welt, in der die große ihre Probe hält, wie es Friedrich Hebbel einst formuliert hat. Heutzutage beschäftigt sich ein Teil der deutschsprachigen Publizistik ebenfalls mit dem Schicksal Österreichs, im Schweizer Verlag Orell Füssli veröffentlichte der deutsche Journalist Dr. Hans-Peter Siebenhaar, Wiener Korrespondent des „Handelsblatts“, seine Abrechnung mit dem gegenwärtigen Österreich („Österreich. Die zerrissene Republik“) und 20 Journalisten der bürgerlich-liberalen „Die Presse“ befassen sich mit der Schräglage des Landes in pointierten Essays („Zur Schräglage der Nation. Österreich in 20 Feuilletons“, Molden-Verlag).

Beide Bücher versuchen zu erklären, was zurzeit in einem Land geschieht, das zweifelsohne für Mitteleu-ropa und für Rumänien eine durchaus wichtige Rolle spielt. Die rumänische Öffentlichkeit, die die Bundestagswahlen in Deutschland kaum registriert hat, geschweige davon, sich damit zu befassen, nimmt die Tagespolitik in Österreich selbstverständlich nicht wahr. Obwohl es dafür gute Gründe gibt: Nicht nur die überwältigende Präsenz österreichischer Konzerne in der rumänischen Wirtschaft, sondern auch die Tatsache, dass in den jüngsten Jahren die Zahl rumänischer Arbeiter in Österreich stark zugenommen hat, oder jene, dass sich die österreichische Regierung weiterhin gegen einen Schengen-Beitritt Rumäniens wehrt, sind entsprechende Argumente, um immer wieder nach Wien zu blicken.

Siebenhaars Buch stützt sich auf die Kernthese, dass Österreich von einem Selbstbetrug historischen Ausmaßes gekennzeichnet sei. Alles werde schöngeredet, verschleppt und ausgesessen, ein erstarrtes Land also, der dringend notwendigen Reformen unfähig. Eine Alpenfestung, die schleichend nach rechts rückt, sodass die altgedienten Volksparteien ÖVP und SPÖ sich damit abgefunden haben, den Rechtspopulisten hinter-herzurennen. Dass in der Flüchtlingspolitik Österreich nach dem Rücktritt von Kanzler Werner Fay-mann vollkommen andere Wege gegangen ist als der deutsche Nachbar, ärgert den deutschen Journalisten zweifelsohne. Den sachlichen Ton eines „Handelsblatt“-Korrespondenten gibt er ohne Weiteres auf.

Die Autoren der „Presse“ bieten bessere Argumente, warum sich Österreich in einer Schräglage befindet. Sie beleuchten stilistisch einwandfrei, was die Bürger bewegt, welche gesellschaftspolitischen Tendenzen sich breit machen, wie es sich mit der Gemütlichkeit der Melange trinkenden Kulturnation Österreich verhält, wie sich Begriffe wie Heimat, Nation, Klassenkampf, Widerstand und Gerechtigkeit entwickeln. Und um das Besondere an Österreich, die Sprache mit inbegriffen. Dabei geht es, ja, es muss auch um den Fauteuil, den Kasten, das Stanitzel, die Jause, und die Kassa gehen. Und darum, dass bei internationalen Fußballspielen österreichische Jungs immer öfter zu Deutschlands Elf halten. Früher wäre das zwischen Boden- und Neusiedler See keinem eingefallen.

Wie dem auch sei: Österreich bleibt eines der wohlhabendsten Länder Europas und der Welt, doch es erlebt, genauso wie Deutschland und der Rest des Westens, eine vielschichtige Gesellschaftskrise, die zahlreiche Ängste schürt. Dass sich Journalisten damit beschäftigen, ist durchaus berechtigt. Sie haben keine endgültige Antwort auf die heikle Frage, ob es besser oder schlimmer wird. Nah am Zeitgeschehen, halten sie sich mit Prognosen eher zurück. Doch die Art und Weise, in der sie die Aktualität beleuchten, weist eindrucksvoll auf künftige Entwicklungen hin.

Geplagt von der langen Präsidentschaftswahl des Jahres 2016, als dann doch das angeblich Gute über das scheinbar Böse siegen konnte, wählen die Österreicher am Sonntag einen neuen Nationalrat. Umfragen zufolge sollte die ÖVP mit 33 - 34 Prozent stärkste Partei werden, die FPÖ mit 27 Prozent dürfte auf dem zweiten Platz landen, die noch regierenden Sozialdemokraten unter Kanzler Christian Kern könnten mit 22 bis 24 Prozent nur noch den dritten Platz belegen. Die Volkspartei SPÖ geht den Weg der Volkspartei SPD, „Wunderwuzzi“ und ÖVP-Chef Sebastian Kurz dürfte bald am Ballhausplatz die Richtlinien der österreichischen Politik bestimmen. Auch Rumänien sollte aufmerksamer hinschauen.