Österreichs Sozialdemokratie zwischen Macht und Marx

Versuch einer Analyse

Andreas Babler, der neue Bundesparteivorsitzende der Österreichischen Sozialdemokratie | Foto: SPÖ/David Višnjic

Nach zwei skandalumwitterten Regierungsbeteiligungen der rechtspopulistischen FPÖ (2000-2006 und 2017-2019), von denen die letzte über das „Ibiza-Video“ gestürzt ist, das international für Aufregung gesorgt hat, schlägt Österreichs Innenpolitik erneut Wellen, die über die engen Staatsgrenzen hinaus zu spüren sind. Diesmal steht jedoch nicht so sehr das rechte, sondern das linke Parteienspektrum im Zentrum der Aufmerksamkeit.

Die Energiekosten steigen enorm, die Mieten ebenso. Die Inflation liegt deutlich über EU-Durchschnitt. Gleichzeitig suchen in keinem anderen Mitgliedsland der Europäischen Union so viele Unternehmen so lange erfolglos nach Personal wie in Österreich. Auch beim wichtigen Thema des Klimawandels ist die Alpenrepublik alles andere als ein Musterschüler. Laut einem aktuellen Bericht des Umweltbundesamts verfehlt das Land trotz der Regierungsbeteiligung der Grünen eindeutig die EU-Klimaziele für 2030. Die regierende konservative Österreichische Volkspartei (ÖVP), die sich im Dezember so vehement gegen Rumäniens Schengenbeitritt gewehrt hatte, ist im Stimmungsbarometer um mehr als zehn Prozent abgesackt, die Grünen um rund drei Prozent.

Diese Umstände, könnte man meinen, sollten eigentlich ein Turbo für die Opposition links der Mitte sein. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ), die von 1945 bis in die 1990er-Jahre bundesweit fast durchgehend über vierzig Prozent der Stimmen erzielen konnte, schafft es in den jüngsten Umfragen gerade mal auf etwa zwanzig Prozent. Die liberale Partei NEOS (Das Neue Österreich) legt moderat zu und käme derzeit auf rund zehn Prozent, wenn man den Meinungsforschern glaubt. Von der schwachen Performance der schwarz-grünen Regierung kann offenbar nur die rechtpopulistische Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) profitieren, und das, obwohl sie erst vor wenigen Jahren als eine Art Hort der Korruption und Vetternwirtschaft aus der Regierungsverantwortung geradezu verjagt worden war.

Blutet die SPÖ „nach links“ aus?

Womit beschäftigen sich angesichts dieser Lage Österreichs Sozialdemokraten? – In den letzten Monaten hauptsächlich mit sich selbst. Obwohl sich der Bewegung mit der Epidemiologin Pamela Rendi-Wagner als Parteichefin während der Coronapandemie eigentlich Heimspielbedingungen geboten hatten, konnte sie diesen Vorteil nicht nutzen. Im Gegenteil: Innerparteiliche Streitigkeiten, die in erster Linie vom roten burgenländischen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil konsequent genährt wurden, trugen zu einer Lähmung bei, die schließlich in einer Mitgliederbefragung darüber gipfelte, wer die Partei künftig führen soll. 

Dieses basisdemokratische Werkzeug jedoch ist in der schwerfälligen, großen Partei bisher dermaßen unbekannt gewesen, dass bereits die Durchführung von einer Reihe Pannen, Reglementänderungen und Peinlichkeiten (vorübergehend befand sich auch eine Giraffe aus dem Tiergarten Schönbrunn unter den Bewerbe-rinnen für den Vorsitz) überschattet war. 

Neben Spott und Häme war unter anderem auch ein atemberaubender Höhenflug der seit den 1960er-Jahren von vielen totgeglaubten Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) die Folge. In den 1970er- und 1980er-Jahren zeichnete sich die KPÖ auf Bundesebene durch ausgesprochene Moskautreue sowie durch Verständnis für den sowjetischen „Panzerkommunismus“ aus. In jüngerer Vergangenheit verpasste sich Österreichs Linksaußenpartei jedoch eine Erneuerungs- und Verjüngungskur, nicht zuletzt durch die Allianz mit der von den Grünen abgespaltenen Grünen Jugend.

Das Comeback der österreichischen Kommunisten begann jedoch eigentlich be-reits um das Jahr 2000 in der steirischen Landeshauptstadt Graz. Durch eine starke Konzentration auf rein kommunalpolitische Fragen (vor allem Wohnbau) und geschickte Öffentlichkeitsarbeit konnte die KPÖ seit 2003 durchgehend zweistellige Ergebnisse bei den Grazer Kommunalwahlen einfahren. Im Jahr 2021 wurde sie mit fast 29 Prozent Stimmenanteil sogar Nummer Eins und stellt seither die Bürgermeisterin. Im Windschatten der Grazer Triumphe gelangen auch bei den steirischen Landtagswahlen wiederholt gute Ergebnisse. 

Spätestens seit diesem Jahr können die Erfolge der KPÖ jedoch nicht mehr als Grazer Phänomen abgetan werden: Bei den Landtagswahlen im eher konservativen Land Salzburg erreichte die Partei Ende April über elf Prozent. Das Teilergebnis der Landeshauptstadt beträgt sogar unglaubliche 21,5 Prozent!

SPÖ-Mitgliederentscheid: misslungene Orientierungshilfe

Währenddessen konzentrierten die Sozialdemokraten sich auf die Sorgen daheim. Nach der Streichung der Giraffe und einer überwältigenden Anzahl weiterer Vorsitzkandidaten konnten die Mitglieder sich zwischen den drei Varianten Hans Peter Doskozil, Andreas Babler und Pamela Rendi-Wagner sowie der vierten Option „Niemand davon“ entscheiden.

  • Landeshauptmann Doskozil hat sich in den letzten Jahren den Ruf eines Repräsentanten des „rechten“ Parteiflügels angeeignet. Ausschlaggebend dafür war vor allem, dass er entgegen einem dreißig Jahre alten, parteiinternen Dogma in seinem Bundesland vorübergehend eine Koalitionsregierung mit der FPÖ anführte. In der Flüchtlingspolitik schlug er das „Dänische Modell“ vor, in dem die Sozialdemokraten sich durch eine besonders harte Asylpolitik auszeichnen und Wahlerfolge verzeichnen.
  • In der niederösterreichischen Stadt Traiskirchen befindet sich in den Räumlichkeiten einer ehemaligen k.u.k. Kadettenschule eine Bundesbetreuungsstelle für Asylwerber (vulgo „Flüchtlingslager“). Seit 2014 ist Andreas Babler Bürgermeister der 19.000-Einwohner-Stadt und wurde durch seinen humanen Umgang mit den Herausforderungen, die sich durch die Tausenden Asylwerber im Ort ergeben, überregional bekannt. Er hat sich auf diese Weise zum Teil auch Anerkennung über die Parteigrenzen hinweg erworben. SPÖ-intern wird Babler vor allem vom linken Parteiflügel und der Parteijugend unterstützt.
  • Parteichefin Pamela Rendi-Wagner (ab 2018) ist aus einer schwierigen Startposition ins Rennen gegangen: So dynamisch und erfolgreich sie als Gesundheitsministerin (2017) wirkte, so sehr litt sie unter dem SPÖ-Parteiapparat, dem sie als Quereinsteigerin wenig Eigengewicht entgegensetzen konnte. Um den Mangel eines sie unterstützenden Flügels zu kompensieren, umgab sie sich mit erfahrenen Parteifunktionären, die sowohl optisch als auch durch ihre Art, Politik zu betreiben, eher an das ZK der späten SED erinnerten, als an Sozialdemokraten des 21. Jahrhunderts.

Das Ergebnis der Mitgliederbefragung brachte fast exakt je ein Drittel der Stimmen für die drei Kandidaten (Doskozil 33,68 Prozent; Babler 31,51 Prozent; Rendi-Wagner 31,35 Prozent), nur 3,5 Prozent entschieden sich für Variante vier. – Rendi-Wagner zog sich aus allen politischen Ämtern zurück. Babler entschied sich dafür, entgegen dem Wunsch der Parteileitung beim Sonderparteitag in einer Kampfabstimmung gegen Doskozil anzutreten.

Linker Parteiflügel gewinnt Vorsitzwahl

Beim mit großer Spannung erwarteten Bundesparteitag am 3. Juni konnte Babler mit 52,66 Prozent der Stimmen die Wahl für sich entscheiden. Doch es wurden aufgrund eines peinlichen Datenübertragungsfehlers, so die Wahlkommission, Doskozil fälschlicherweise als Sieger ausgerufen. – Erst nach zwei Tagen wurde das korrekte Ergebnis verlautbart!

Babler, in der parteiinternen Auseinandersetzung Vertreter der Linken, gilt als inhaltlich flexibel. Dies könnte im Hinblick auf eine mögliche Zusammenarbeit mit Liberalen und Grünen zwar ein Vorteil sein, hat ihm aber bereits auch scharfe Kritik beschert: So hat er in der Vergangenheit diametral entgegengesetzte Positionen etwa im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie in der EU-Politik vertreten. Noch in einem Interview aus dem Jahr 2020 bezeichnete er zum Beispiel die Europäische Union als das „aggressivste außenpolitische militärische Bündnis, das es je gegeben hat“. Zwar hat er sich inzwischen von diesen Äußerungen distanziert, doch ein bitterer Nachgeschmack bleibt. Nachhaltiger auf mögliche Koalitionsvarianten wird sich Andreas Bablers Bekenntnis zum Marxismus auswirken. Der „Austromarxismus“, der in der SPÖ noch bis in die 1970er-Jahre als ideologischer Bezugspunkt gepflegt wurde, geriet ab den 1980er-Jahren in den Hintergrund. Im Jahr 1991 hatte sie sich von „sozialistisch“ auf „sozialdemokratisch“ umbenannt. Karl Marx geriet in Vergessenheit, außer in den Reihen der Parteijugend, aus deren Mitte Andreas Babler stammt. Noch während der Auseinandersetzung um den Parteivorsitz bezeichnete sich Babler als „Marxist“, revidierte diese Aussage jedoch kurz danach. – Taktik oder Erkenntnis?

Trotzdem bleibt festzuhalten: Andreas Babler ist Vorsitzender einer sehr traditionellen und oft schwerfälligen Partei. Wie auch alle seine Vorgänger ist er in einen großen Parteiapparat eingebunden, der ideologisch von eher konservativen Gewerkschaftern, über sozial engagierte Katholiken bis hin zu Linkssozialisten und eben Marxisten vieles abdeckt. Gerade diese enorme inhaltliche Breite, kombiniert mit einem Hang zum Pragmatismus, war in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit ein Schlüssel zum Erfolg der SPÖ. Eine revolutionäre Gefahr sieht anders aus.

Chance oder Gefahr für die „Ampel“?

Während der Zeit, in der die sehr sachliche, aber inhaltlich nicht besonders „kantige“ Pamela Rendi-Wagner die Geschicke der SPÖ leitete, wurde die Variante einer Ampelkoalition im politischen Wien immer wieder in Erwägung gezogen, zumal die Bundeshauptstadt auf kommunaler Ebene seit 2020 von einer SPÖ-NEOS-Koalition regiert wird und dadurch klar wurde, dass eine Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten für die Liberalen „per se“ kein Tabu darstellt. 

Wer einen Blick in Österreichs politische Zeitgeschichte wagt, wird sehen, dass Mehrheiten links der Mitte nur sehr selten möglich waren: Neben ein paar vorübergehenden Perioden seit den 1990er-Jahren, in denen für eine solche Mehrheit die Beteiligung der Liberalen notwendig gewesen wäre, war dies ausschließlich in den 1970er-Jahren möglich, zur Zeit des legendären Bundeskanzlers Bruno Kreisky , der sogar mit einer Absoluten Mehrheit regieren konnte. Kreisky galt jedoch als Konsenspolitiker mit Distanz zur Parteilinken. 

Im kommenden Jahr stehen Parlamentswahlen an. Für die sogenannte „Große Koalition“ reicht die Mehrheit nach derzeitigem Stimmungsbild nicht aus. Wird es eine Neuauflage der bereits zweimal kläglich gescheiterten ÖVP-FPÖ-Koalition geben? Vielleicht sogar mit FPÖ-Chef Herbert Kickl als Bundeskanzler? Es wäre nach derzeitiger Situation jedenfalls die einzige Variante einer Zweierkoalition. Aufgrund des Schwächelns der ÖVP scheint eine Koalition der Konservativen mit NEOS und Grünen außer Reichweite. Ob es für die „Ampel“ reicht, hängt von mehreren Kriterien ab: Wird Babler die Bedenken der liberalen NEOS im Hinblick auf seine klassenkämpferischen Ansagen ausräumen können? Wird er es dann trotzdem noch schaffen, einen Einzug der KPÖ ins Parlament zu verhindern? Wird NEOS als „rechter Flügel“ einer möglichen Mitte-Links-Koalition stark genug sein, um auch moderat-rechte Wähler anzusprechen? Werden die Grünen nach ihrer bescheidenen Exekutivperformance der letzten Jahre noch in der Lage sein, sich an einer Regierung zu beteiligen?

Angesichts der in letzter Zeit oft überaus rasanten Stimmungsschwankungen in Teilen der Bevölkerung sowie mancher noch im Verborgenen schlummernden innenpolitischen Aufregungen – etwa im Zusammenhang mit einer Reihe von Korruptionsprozessen um die ÖVP – wäre jeder Versuch einer Prognose unseriös. Gewiss ist nur, dass es donauaufwärts spannend bleibt.


Stefan Bichler (Jahrgang 1977) stammt aus Österreich, lebt seit über 20 Jahren in Hermannstadt und befasst sich beruflich unter anderem mit Öffentlichkeitsarbeit und politischer Bildung. Er leitet die Plattform „Romanian Liberals“, die der europäischen liberalen Parteienfamilie nahe steht.
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