Liebes Tagebuch!
Ich sitze in einem Zug mit unbekanntem Ziel, der zunehmend an Fahrt aufnimmt. Ich sehe aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus und hoffe, dass die Sonne endlich aufgeht!
Finde mich statt dessen wieder in einer Achterbahnfahrt zwischen Fassungslosigkeit, Hoffnungsfunken, Enttäuschung und, ja, sogar Wut! Gerade jetzt, wo alles rund zu laufen schien: unser Land, vertrauensvoller EU- und NATO-Partner, Schengen und USA Visa Waiver greifbar, alles sooo hart erkämpft...
Was ist nur plötzlich in die Rumänen gefahren?
Wie werden wir – werden wir? – aus diesem Albtraum erwachen?
Freitag, 6.12.: Hurra! Suizid der Demokratie verhindert
Demokratie, wenn man ihr freien Lauf lässt, beinhaltet auch die Möglichkeit, sich selbst abzuschaffen: Demokratisch hätten wir am 8. Dezember beinahe den wahrscheinlich von langer Hand vorbereiteten „Wunschpräsidenten“ von Wladimir Putin gewählt... Den mit dem geschönten Lebenslauf. Dessen Unterstützer Bruno Mihăilescu, nach außen esoterisch-visionäre „Lichtfigur“ von „Tracia Unita“, in der russischen Botschaft verkehrt und einen Snoop-Journalisten in Mafia-Manier bedrohte. Festgehalten auf Film. Der Kandidat, der schon am zweiten Tag seine allzu verwirrende Anti-EU-anti-NATO-Rhetorik sanft zurückfahren musste...
Inzwischen veranlassten hiesige Geheimdiensterkenntnisse das Verfassungsgericht zum Zug der Reissleine: Erste Wahlrunde annuliert, Neustart mit allem Drumherum. Gerettet! Nur Lasconi sah ihre Felle davonschwimmen: „Angriff auf die Demokratie“, zetert die Fast-schon-sicher-Präsidentin und enthüllt auf einmal ihr weniger sonniges Gesicht. Was Macht mit den Menschen macht...
Nun stellt sich also die Gretchenfrage: Ist es undemokratisch, wenn man eine Wahl anulliert? Hätten die Bürger nicht theoretisch das Recht, einen Autokraten oder gar einen Diktator zu wählen, wenn sie es mehrheitlich wollen? Nein, denn dann (ver)endet die Demokratie! Die Demokratie demokratisch enden lassen aber gleicht einem Selbstmord. Und der ist, trotz aller Rechte zur Selbstbestimmung, überall verboten. Erst recht, wenn von außen nachgeholfen wird... So sehe ich die Geschichte. Mutig also vom Verfassungsgericht, sich in allerletzter Minute durchzuringen, den Patienten – auch gegen seinen Willen – zu retten!
Nun aber gilt es, seinen Lebenswillen wieder zu entfachen. Zu fragen: Was ist schiefgelaufen? Wie kam es, dass die Menschen auf diesen Blender hereingefallen sind, der auf der Bühne ein weißes Kaninchen nach dem anderen aus dem Hut zaubert – und die Massen verzaubert? Dazu das erhabene Getue eines gottgesandten Erlösers vor den satanistischen Globalisten. Die Schmerzen der arg gebeutelten Rumänen versprach er zu lindern: die der ewig vor anderen Knienden, der Gedemütigten und Zurückgewiesenen (Körnchen Wahrheit: Schengen!), der um ihren Reichtum und ihre Würde Betrogenen in der Schmollecke Europas. Und vergaß, ihnen den Preis für ihre wundersame Heilung zu nennen: Wieder Schlangestehen vor den Visaabteilungen der EU-Botschaften; keine NATO-Rückendeckung mehr vor Schurkenländern, die es nach dem ach so gepriesen Reichtum des Landes dürstet; Vertrauensverlust ringsum auf ganzer Linie: Rumänen, zurück an den Start!
Nun ist der Erlöser erstmal ausgebremst, die Aufregung der einen gedämpft, die der anderen hingegen so richtig entfacht, wobei der Aufgebrachte selten zuhört, sich selten belehren lässt, geschweige denn seinen Irrtum zugeben würde, Fehlerkultur ist hierzulande keine Stärke. Die aufklärenden Geheimdokumente – vergeblich, die Meinung steht felsenfest. Die einen kämpfen für die Demokratie. Die anderen für die „demokratische“ Rettung ihrer Gegner. Gespaltenes Land!
Samstag, 7.12.: Der Magier, der Okkulte, der TikToker und der Influencer – perfektes Bühnenspiel!
Kurz nach der Anullierung der Präsidentschaftswahlen erhielt mein Mann eine Flut an „TikToks“ und „Whatsapps“ frustrierter Anhänger des Magiers. Der eigentliche Urheber nicht wirklich zu ermitteln, werden diese Clips n-fach weitergeleitet. Vergeblich frage ich: „Wer schickt dir diesen Mist?“ „Der Herr Ingenieur vom Autoservice“, lautete die lakonische Antwort. Egal, denn der Herr Ingenieur drückt vielleicht, wie Tausende andere , bloß auf den Knopf.
In einem dieser Clips erklärt mit aufgebrachter Stimme ein bekannter Influencer, warum er Călin Georgescu promovierte: Weil der so schön über das Wasser spricht! Wasser sei nicht H2O, sondern Information, berief er sich auf die (seit Jahrzehnten bekannten) Experimente von Masaro Emoto. Interessant, warum nicht? – Aber wählt man so einen Präsidenten? Ist dies die Message, die ein Kandidat für ein politisches Amt an das Volk richten muss? Oder ist das eher Missbrauch von Gefühlen – wie das Abspielen des zauberhaften „cântecul iubirii“ (Lied der Liebe) der engelhaften Maria Coman im Kontext des Wahlkampfes auf dem Georgescu-freundlichen Propagandakanal! Ich fühle mich um mein Lieblingslied betrogen. Frage mich, ob die Nachbarn jetzt denken, ich sei Georgescu-Fan, wie oft habe ich es auf der Veranda laut gehört? Wie schnell wird ein Lied, ein Gedanke, politisiert. Auch über „esoterische“ Dinge zu sprechen wird man sich jetzt hüten müssen.
Andere fühlen sich gerade davon angesprochen: Schau, wie hochspirituell und tiefchristlich, dieser (Möchtegern)-Präsident in spe! Der über die Schwingung von Wasser philosophiert, statt Klartext zu reden über seine Pläne mit NATO und EU...
Und dann fällt es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Es wird weitergehen, das Spiel! Genau so, bis zu den nächsten Wahlen. Das Bühnenstück ist ein erfolgsträchtiger Selbstläufer. Drei Charaktere spielen einander darin elegant in die Hände: der Sektenführer auf der Bühne, die TikTok-hörige Anhängerschaft und der Influencer als Multiplikator (im Hintergrund, nicht vergessen, der okkulte Inszenierer…).
Wer seinen Acker pflügt und die Schweine füttert, wer seine Zeit arbeitend, denkend oder kreativ schaffend, sprich sinnvoll, verbringt, hat vielleicht keinen Sinn für sowas. Massenhaft TikTok-Zeit aber haben die vom Leben Gelangweilten, die Müßiggänger, die Tunichtgute, Schnorrer nach Zigaretten und Bier, so wie der knapp über 50-Jährige in unserer Nachbarschaft, der seiner Mutter auf der Tasche liegt, aber wenn mein Mann ihn fragt, ob er (fürstlich bezahlt!) zwei Tage beim Graben für ein Mäuerchen helfen könnte, nur bitte pünktlich und nüchtern, empört ausruft: „Domnul George, ich bin doch nicht ihr Sklave!“ Zur vereinbarten Arbeit zu erscheinen, nicht um elf schon das dritte Bier zu zischen und dann zum Zigarettenholen auf Nimmerwiedersehen abzuhauen, wie beim letzten Mal, ist zutiefst erniedrigend für ihn! Wo bleibt da die Menschenwürde? Massenhaft Zeit haben auch so manche orientierungslos chillende junge Leute... alles billige Opfer für den anderen Akteur: den Influencer! Der Influencer lebt von möglichst viel Internet-Verkehr, von ständiger Aufmerksamkeit, von der Abhängigkeit seiner Opfer wie von einer TV-Seifenoper, nur dass rund um die Uhr gesendet wird. So verdient er sein Geld. Der Influencer spricht in einfachen Worten, zu allen Lebenslagen, wie ein echter Kumpel: Er spendet Rat, Lebenshilfe, Trost und Denkersatz – und das auch noch unterhaltsam. Er muss die Gelangweilten aufschrecken, aufstacheln, ihnen fehlende Abenteuer und Lebenssinn ersetzen, und das geht am besten kontrovers: mit Hetzen! Der Influencer und der Überdrüssige sind das perfekte Gemisch- Feuer und Öl – um die Gesellschaft zu zünden. Der Magier gibt nur den Einsatz vor. Welche Freude für den Okkulten, der süffisant lächelnd mit dem Streichholz dahintersteht.
Sonntag, 8.12: Ein grotesker Dschihad mitten in Europa
Die Welle rollt an. Was ich davon mitbekomme in meiner isolierten Filterblase ist nur ein Tropfen, doch der hat es in sich: Plingg – wieder das Handy. Ein neuer Clip, ein bekanntes Gesicht, ein ehemaliger Parlamentarier namens Gelu Vi{an spricht, untertitelt mit einer blinkenden Schriftzeile: „Gelu Vișan nu bate câmpii, știe și spune ce știe!“ (G.V. spinnt nicht, er weiß was und sagt, was er weiß). „Ich habe es satt, die Wahrheit zu verbergen“, hebt er an, während sich über sein Gesicht ein „DISTRIBUIȚI!“ (verteilt das!) schiebt. Dann behauptet er mit allergrößter Selbstsicherheit, Rumänien hätte Truppen in der Ukraine und innerhalb von drei Monaten würden 100.000 weitere junge Leute in den Krieg geschickt. „Das ist der Grund für die Anullierung der Wahlen: Krieg!“ Ist Volksverhetzung nicht strafbar?
Ich schaue mir seine Facebookseite an: Dort prangen mehrere Memes, die zum Protest in den Wahllokalen aufrufen. Eins davon: „Călin Georgescu bestätigt, was ich gesagt habe: Johannis bringt uns den Krieg. Am Sonntag gehen wir zur Wahl.“ 501 Likes, 75 mal weiterverteilt. Ein anderes Meme: „Johannis hat uns die Wahlen verboten, der Staatsstreich geht weiter! Diktatur!“ Zum ersten Mal fühle ich mich isoliert in meiner Info-Blase. Das Land kocht über und ich bekomme nur einen heißen Tropfen ab. Wegwischen.
Was tun? Schreiben, aus Wut, aus Verzweiflung. Schreiben, festhalten, dokumentieren, abreagieren. Unser Land wird in den nächsten Tagen Geschichte schreiben. Keine rühmliche, fürchte ich. Wir befinden uns im Reagenzglas der sozialen Medien. Das mal dieser, mal jener schüttelt, und die Welt schaut neugierig zu. Ich frage mich: Wann wird der Maisbrei explodieren? Nicht ob, nein, wann! Mit Ausrufe-, nicht mit Fragezeichen.
Am Vorabend mal kurz den TV-Kanal mit Georgescu stummgeschaltet: Grotesk, wie er mit den Augen blinkt, wenn er spricht. Als würde er mit dem Mund ein Stück Realität vorformen und dann mit den Lidern auf „Absenden“ drücken. Massenhypnose, gekonnt.
Die Facebookseite des Magiers höchstpersönlich bestätigt, da sollte sich was zusammenbrauen. „#NoiIeșimLaVot“, wir gehen wählen, fordert das Meme. Über 17.000 Likes, rund 1600 mal geteilt, wie oft weiterverteilt? Doch nicht nur „wählen“ will man am Sonntag gehen, sondern auch „beten“: Die orthodoxe Kirche reagiert besonnen auf Hinweise, dass „gewisse politische Kreise“ Kundgebungen in Kirchen planen. Die Pfarrer seien aufgerufen, nicht mitzumachen, heißt es offiziell.
Ich google spontan: „Facebook, Erzbischof Teodosie von Tomis“ (der übrigens auch ein TikTok-Konto hat). Auf den ersten Blick sieht es dort brav aus: Ikonen, keine Memes. Bis ich aufs Geratewohl reinklicke: Eine Video-Message vom heiligen Berg Athos – Volltreffer! „Wir führen einen großen Krieg“, säuselt ein bärtiger Mönch, und „Gott arbeitet durch Călin Georgescu“! Lasconi, dort explizit verdammt, habe sich „gegen die Evangelien“ gerichtet... Wir sollen also „für Gott und Jesus wählen“, für „Călin Georgescu, ein Gefäß, durch das der Herrgott arbeitet.“ Gepostet am 5. Dezember. Nicht von seiner Eminenz höchstpersönlich, aber spielt das eine Rolle?
Nächster Klick, selbe Seite – was hat das hier zu suchen? Ein Dokument der „Federația Nationala Muncii“, der Arbeitergewerkschaft, vom 4. Dezember, mehrfach gestempelt, vier Unterschriften, ruft seine Mitglieder auf, unbedingt Georgescu zu wählen! Es endet mit dem Satz: „Habt keine Angst: wählt und befreit euch vom unterdrückenden Stiefel, der auf uns draufsteigt, auf uns alle, auf unseren Hals! Es könnte unsere letzte Chance sein (…), um als Volk nicht unterzugehen.“ Ein grotesker Dschihad hat begonnen, mitten in Europa. Und ich fürchte, es wird keine Sieger, sondern nur Verlierer geben...
Montag, 9.12.: Kampf gegen Windmühlen...
Die Demos vor den Wahllokalen: eine Handvoll Leute. Aus den Kirchen: Stille. Puh! Dann die Verhaftung eines ehemaligen Fremdenlegionärs mit Verbindung zu Georgescu und rechtsextremen Kreisen, der mit Leuten und Waffen in die Hauptstadt unterwegs war, um auf öffentlichen Versammlungen zu Straftaten anzustiften – eine Art Prigoschin Rumäniens. Gutes Zeichen, immerhin: Die Behörden schlafen nicht!
Der Rundfunkrat CNA straft die Fernsehmoderatorin Anca Alexandrescu von Realitatea Plus mit der Höchststrafe von 100.000 Lei für die Sendung vom Samstag, in der Călin Georgescu über einen „unmittelbar bevorstehenden Krieg“ mit Russland spricht. Außerdem haben CNA und die Regulierungsbehörde für den Telekommunikationssektor (ANCOM) die Social-Media-Plattformen auf ihre Verpflichtung vor der Europäischen Union hingewiesen und verstärktes Monitoring gefordert. Zahlreiche im Umlauf befindliche Videoclips seien geeignet, Panik auszulösen, gefährliches und antisoziales Verhalten zu fördern, heißt es in dem Kommuniqué.
Am Vortag noch hat mein Mann mehrere Telefonate geführt: Mit einem rumänischen Unternehmer, der felsenfest davon überzeugt ist, dass das Militär „gerade jetzt die Grenzen schließt“. Mit einem jungen Ergotherapeuten aus unserem Dorf. Mit dem besagten Auto-Ingenieur und mit ein paar Handwerkern. Wie ein Ölmann redet er: die fahrenden Panzer sind nicht auf dem Weg in den Krieg, sondern bloß von der Parade des 1. Dezember in die Kaserne heimgekehrt (ein Fotografenauge sieht das sofort!). Kurz darauf erscheint in den Medien das Dementi des Verteidigungsministeriums. Er schickt es in die Runde. Vergeblich. Im Dorfladen wird er von einem herumbrüllenden Georgescu-Anhänger fast tätlich angegriffen, weil er seine Meinung ebenfalls kundtut.
Kein Einziger der Angerufenen rückt von seiner Haltung auch nur millimeterweit ab! Gänsehautfeeling... Freilich, das ist keine Profi-Umfrage, nur eine Handvoll Leute in einem Dorf. Doch fest im Griff des Massenhypnotiseurs, der – Tik-Tok –, sanft das Gift der Zwietracht in ihre künstlich aufgerissenen Wunden tröpfelt. Wird es gelingen, dem Illusionskünstler bis zu den Neuwahlen das Handwerk zu legen?