Randbemerkungen: Schon wieder ein neuer Mensch

Vor den Wahlen in der Türkei hegten die internationalen Kommentatoren die (schwache, aber immerhin) Hoffnung, dass es nach 20 Jahren Erdoganisierung des 85-Millionen-Einwohner-Landes und Nato-Partners zu einer „Wende“ kommen könnte. Vor der Stichwahl schraubte man die Hoffnung auf Sparflamme, ohne sie aufzugeben. Am Wahltag wurde Recep Tayyip Erdogan mit fast demselben Vorsprung Sieger wie zwei Wochen zuvor. Dabei hatte er – genau wie unser Altkommunist Ion Iliescu zu Beginn der 1990er Jahre – ein bisserl „gefoidelt“ (wie meine Großmutter sagte, wenn sie „lügen“ vermeiden wollte). Denn die Verfassungsänderung von 2017 erlaubte ihm die Kandidatur für ein drittes Mandat – allerdings nur, wenn das Parlament vorgezogene Wahlen ausschreibt. Was nicht der Fall war…

Die Türkei hat die Chance verpasst, sich in eine authentische Demokratie zurück zu wandeln, den sich abzeichnenden (wirtschaftlichen, finanziellen, politischen) Absturz in eine Autokratie zu stoppen. Dass es bei den Wahlen Unregelmäßigkeiten gab (was neben der Opposition auch von den Wahlbeobachtern signalisiert wurde) wird stimmen – doch wohl nicht wahlentscheidend gewesen sein. Wahlentscheidend waren die Auslandstürken (die Erdogan gewählt haben, ohne die Fuchtel seines Regimes fürchten zu müssen) und der „Neue Mensch“, wie ihn das Erdogan-Regime in zwei Jahrzehnten hervorbrachte. „Neue Menschen“ sind Diktatorenhobbies (siehe Ceaușescu).

Aber auch eine mehrheitlich resignierte, zerstrittene und schlaffe Opposition, die – so Kenner der Türkei in internationalen Medien – im Grunde einen Sieg ihres Kandidaten fürchteten, angesichts der Lage, in der sich die Türkei mit ihren 80 Prozent Inflation und dem rasanten Absturz der Landeswährung befindet. Die Hauptbefürchtung: Bei einem Sieg der Opposition würden sich Opponenten en masse finden, die keine Zurückhaltung hätten, die direkte und tätliche Konfrontation mit den Ordnungskräften, mit den Regierungsvertretern zu suchen. Ein Regieren wäre erschwert bis verunmöglicht, niemand könne als Garant für eine bessere Zukunft auftreten. Viele junge Oppositionelle sähen jetzt ihre Zukunft ausschließlich im Ausland.

Ihre Grundhaltung sei gewesen: Warum kämpfen für die Rettung eines Volkes, das nicht gerettet werden möchte? Für Mitmenschen, die den Eingaben des Regimes unkritisch und bedingungslos Glauben schenken: Dass nämlich die Opposition, die sich als ihr potenzieller Retter ausgibt, eigentlich DER absolute Feind jedes anständigen, gläubigen Türken ist. Warum also als Oppositioneller die „Freiheit wie das Leben“ aufs Spiel setzen für Menschen, deren Gedankengut aus der Indoktrination durch die Regierung kommt. In einem Land, wo Erdoganisierung auch die quasi-totale Unterordnung und brutale Zähmung aller Medien bedeutet. Wo Twitter-Chef Elon Musk untertänigst den Zugang zu störenden Konten sperrte, als aus Ankara ein böses Knurren zu hören war.

Die Türkei ist eine der Re-Tribalisierungs-Bühnen der gegenwärtigen Welt, inklusive des islamistischen Vormarsches, mit Erdogan als Vorbeter (vor allem nach der Wirtschaftskrise von 2008 und seit klar ist, dass ein EU-Beitritt der Türkei wegen Erdogans Politik in weite Ferne gerückt wurde). Als Staatspolitik ist das ein offenes Zertreten des atatürkschen Vermächtnisses. 

Erdoganisierung bedeutet aber auch „neuer türkischer Mensch“. Der „Neutürke“ sei ein Produkt der Partei, die seit 20 Jahren regiert: konservativ, misstrauisch, extrem zurückhaltend allem gegenüber, was moderne Welt von heute heißt. Engstirnig tribalistisch im Denken. Der das Gefühl der Scheinsicherheit schätzt, das ihm von den Regierenden eingeredet wird, die ihn dauernd vor Brandherden warnen, die ausbrechen könnten – und die Streichhölzer in der Tasche bereithält.

Erdogan baut weiter seine Mauer. Mauern sperren aus und ein.