Ruhm am Nachmittag

Ein „tagebuchartiger Roman“ der Sorte Gauß

Vier Journale über die Nullerjahre, das braucht ein anständiges Ausmaß an Definitionen und Standortbestimmungen – bei Karl-Markus Gauß alles reichlich vorhanden. Natürlich kann der „Meister des geschliffenen Wortes“ (so Ulrich Weinzierl, „Die Welt“) auch anders. Nur, bisher wollte er nicht. Essays? Mit links geschafft. Literaturkritik? Tausendfach. Reportage? Quer und krumm durch halb Europa. Journal? Check! Zwar nicht gleich, dann aber umso schlagfertiger, und von Anfang an erfolgreich. Von nah, von fern, mit und ohne, früh am Morgen oder eben spät am Nachmittag: Gauß’ Journale kamen bemerkenswert gut an, er scheint tatsächlich immer ins Schwarze getroffen zu haben – ja wie denn bloß?

Richtung Journalroman. Eine an sich heikle Textsorte, aus einem Teil Alltag, einem Teil Nachsinnen und einem Teil Denkzettelverpassen zusammengereimt. Karl-Markus Gauß im Spiegel seiner Zeit, nein, die Zeit in Gauß’ Spiegel. Denn bei diesem Autor ist es ja so, dass man nicht einfach einen Begriff fallen lassen kann, in dem sozusagen ein Gauß drin steckt. Es geht um mehr als ein objektives Urteil oder ein zuverlässiges Zeugnis oder ein wehmütiges Klagelied. Es geht um ihn, den Autor, der im Wirrwarr medialer Datenausschüttung den roten Faden sucht, dabei – programmatisch – einen Fund an Erfindungen macht und der Leserschaft immer wieder neue Wendungen der Sagkraft beschert. Es geht „um die Frage, wie es gelingen kann, gegen die Anfechtungen der Zeit ein richtiges Leben zu führen und den Anspruch auf das Glück nicht preiszugeben (Klappentext zu „Ruhm am Nachmittag“). Gegen „verschiedene Anfechtungen und Verführungen im Denken“ ist Gauß ja erwiesenermaßen ohnehin gewappnet (Wendelin Schmidt-Dengler, „Die Macht und die Mittel“, „Die Presse“, 24.12.1994). Und was die Zeit anbelangt, hat sich Gauß, der wachsame Zeitgenosse mit blankem Bleistift und kritischem Blick, ein Zitat von Angelus Silesius als Motto für seinen jüngsten Band ausgewählt: „Denn du selbst bist die Zeit.“ Ja, du. (Wer? Wir?)
Einen Vorgeschmack zu diesem Band bot die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ schon am 7. 9. 2011 („Wolfgang Schüssel und der Geist aus den Flaschen“), als Gauß ein prägnantes Wort umdrehte und gleichsam Wien-tauglich machte:

„Noch nie haben so viele dumme Menschen so hohe Positionen innegehabt“. Bilanzierende Aufzeichnungen zum moralischen Desaster einer Ära. 

Ein bisschen Dionysos. Ein bisschen Nietzsche. Und dass sich die Parteisoldaten nicht so oft verschanzen. So könnte man diesen wie gewöhnlich weit ausholenden politischen Zwischenruf von Karl-Markus Gauß sinngemäß spielerisch aus dem Geist einer verlorenen, doch nicht unbedingt vergeudeten Zeit zusammenfassen.

Oder ein bisschen Goethe. Jedenfalls zitiert ihn der Autor öfters in seinem „Ruhm am Nachmittag“. Unbarmherzig zitiert er auch die jetzigen Kraftkerle deutschsprachiger Ausdrucksweise, etwa den rechten Parteiführer H. C. Strache, der strenge Sprachprüfungen für Zuwanderer verlangt, denen sich Männer und Frauen gleichermaßen zu stellen haben, „weil Staatsbürger ein Begriff ist, der beide Geschlechtsteile umfasst.“ Die Zeit, sich totzulachen, hat Gauß nicht, der unwillkürlich obszön geratene umfassende Staatsbürgerschaftsbegriff des rechten Politiker wird lediglich registriert und seiner eigenen, schwer zu überbietenden Lächerlichkeit überlassen.

Die vielen Register, die im Buch gezogen werden, mag der Leser aus mancherlei Perspektive auf eigene Faust selektiv nachvollziehen, vom ironischen Infragestellen des Begriffs „Nullerjahre“ bis hin zu literarischen, politischen, philosophischen Erwägungen der jeweiligen Stunde oder etwa zur neu gestellten, alten Cioran-Frage, der Erklärung, der Verklärung eines Landes, einer Zeit, eines Lebens und einer oft mutierenden Zielsetzung in der Zirkulation der Ideen. Langweilig wird es jedenfalls nicht.

„Nach Österreich und anderswohin“, so lautet die Überschrift des dritten Teils des Buches. Nach Österreich, das heißt bei Gauß von Österreich weg, weg von seinem Heimatland, dem er freilich auch im Flugzeug nicht entkommt, liest er doch da „die Zeitungen vom Inland“, was ein Gefühl der Nicht-Lokalität der Ereignisse vermittelt. Von dieser unserer Zeit der Gegenwart weg, jener unserer Zeit gewesener Gegenwart wenigstens im Gedanken entgegen, den frühen Neunzigern, der Zeit, als Gauß, ein tüchtiger Degen auf dem Gebiet der Polemik und junger Herausgeber der Kulturzeitschrift „Literatur und Kritik“, durch den Salzburger Regen von seiner Wohnung bis zur Redaktion radeln durfte. Anderswohin: das heißt ins heutige Rumänien.

„Ich war nach Bukarest gereist, weil ein Buch von mir ins Rumänische übersetzt worden war. Der größte Verlag des Landes, Humanitas, hatte mich zur Präsentation eingeladen. (...) Die ganze Woche über versuchte ich, mit dem Verlag, mit irgendjemandem aus dem Lektorat, der Pressestelle, der Abteilung für Lizenzen Kontakt aufzunehmen, aber es gelang mir nicht. (...) Ich fragte Karin (Karin Cervenka, die Kulturrätin an der österreichischen Botschaft in Bukarest), wo eigentlich der Verlag geblieben sei, dessen Buch vorzustellen und mittels manchen Presseauftritts zu fördern ich doch nach Rumänien gerufen worden war. Gute Frage, antwortete sie, auch uns von der Botschaft ist es noch nie gelungen, irgendwen im Verlag telefonisch zu erreichen oder zur Beantwortung unserer Briefe und E-Mails zu veranlassen. Aber es gibt ihn wirklich, so viel ist sicher. Erst gestern hat er schriftlich bei der Botschaft um einen Zuschuss für die Übersetzung Ihres nächsten Buches angesucht.“ Ein Seitenblick ins Publishing Management.

Die von Gauß an die Leserschaft weitergeleiteten Informationen stimmen meistens. Dass von der Casa Poporului „zu Weihnachten 1989, als der Conducător und seine Frau hingerichtet wurden, erst ein Fünftel tatsächlich fertiggestellt“ gewesen sei, wie Gauß offensichtlich von Vertretern einer kreativeren Geschichtsschreibung unterrichtet wurde, diese Behauptung hat sich freilich auch in seinen „Journalroman“ eingeschlichen. Als „Vizitator 121“ weiß Gauß jedenfalls ein klangvolles Lied vom Palast zu singen – wohlgemerkt kein Hohelied.

„Lost in Bucuresti“, so hatte die Thematik einer rumänischen Ortung des österreichischen Grenzgängers schon in Gauß‘ „Wald der Metropolen“ angeklungen. Und gefunden hat der österreichische Autor seinen rumänischen Verlag auch im fröhlichen Nachhinein der gediegenen Reflexion wohl kaum. Immerhin wurden seine Reportagen in Bukarest probeweise von einem Schauspieler vorgetragen, der ihm vertraulich zuraunte: „I am the actor, I am here to recite your poems.“ Genre? Unwichtig. Dichtung der Sorte Gauß: endlich in Bukarest angekommen. Polemisch, poetisch und witzig, aber eben nichtsdestoweniger strenggenommen keine Gedichte. Ach so.

Ein Wegweiser. Ein Richtbild. Eine ewige Wahrheit in Reichweite wäre vonnöten, um eine sinnvollere Dimension der Gauß-Rezeption in rumänischen Landen zu zeitigen. Fast will man beim nachträglichen Miterleben der unwahrscheinlichen Lesung in Bukarest hoffen, dass es bis zuletzt wirklich, aber auch wirklich dazu kommen möge. Doch auf einmal steht dann der vom unsichtbaren Verlag zur Gauß-Vorstellung bestellte Schauspieler „mitten im Text“ auf, lächelt noch einmal kurz, ist weg. Anderswohin.

Karl-Markus Gauß: „Ruhm am Nachmittag“, Zsolnay, 2012, 288 S.