„Si se non noverit“

In den „Metamorphosen“ des nach Tomis verbannten Ovid finden wir die in antiken Hexametern durchkomponierte Variante vom Mythos des selbstverliebten Jünglings Narziss. Von dem leiten sich nicht nur die Narzissen (die dort erblühten, wo Narziss vor Eigenliebe starb) ab, sondern auch die Trump-Krankheit, der Narzissmus, der mit „Selbstverliebtheit“ (unvollständig) eingedeutscht wird. Weniger bekannt ist die Weissagung des Teiresias, Narziss werde nur dann alt werden, wenn er sich nicht erkenne – „si se non noverit“, heißt es im Original. Narziss Donald T. ist in seinem Amt nicht alt geworden, trotzdem er sich nie selbst „erkannt“ hat, wie er in Wirklichkeit ist: Ein zum Regieren unfähiger, sonst aber zu allem Fähiger, der jeden Erfolg als Exklusivverdienst seines Egos und jeden Misserfolg – und deren hatte er viele – als Schuld anderer sah.

Die treffendste Darstellung des Narziss in der Kunstgeschichte dürfte Caravaggio 1598/1599 mit seinem „Narziss“ geliefert haben: Der schöne Jüngling verliebt sich bei Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610) eindeutig nicht nur in sein grundsätzlich banales, realistisch widergegebenes, sondern in sein verklärtes Spiegelbild: Die Kleider, die er trägt, scheinen im Spiegel der Quelle viel kostbarer.

Das „Si se non noverit“ des Sehers Teiresias und die Selbstverklärung durch den Betrachter treffen direkt oder indirekt auf den gestern abgelösten US-Präsidenten zu, dem ein (hoffentlich erfolgreiches) Amtsenthebungsverfahren post factum angehängt wird. Die Hoffnung auf einen Erfolg des Verfahrens durch US-Repräsentantenhaus und -Senat gründet sich darauf, dass ein erfolgreiches Impeachment dem bösartigen und egozentrischen Münchhausen von Washington endgültig eine politische Karriere bzw. ein Comeback versperren würde.

Was nicht heißt, dass das das Ende des „Trumpismus“ bedeuten könnte. Was sich dieser US-Präsident an Herausforderungen, Übertretungen des staatsmännischen und diplomatischen Usus, an Nonchalance im Umgang mit der Verfassung und den US-Gesetzen, Institutionen und Bürgern (egal, ob Verantwortungsträger oder nicht), an Manipulation, offensichtlichen Lügen, Hetze und Verachtung seiner Mitbürger geleistet hat, das umreißt das traurigste Kapitel der Geschichte der zweitältesten Demokratie der Welt. Und dafür bekam er auch noch die zweithöchste Stimmenzahl, die je ein amerikanischer Präsidentschaftskandidat auf sich vereinte… Kann man das mit „verrückte Amerikaner“ abtun? Ein Trump zieht an.

Narzissen mit dem Namen Trumpismus auf US-Territorium noch einmal „erblühen“ zu sehen, das kann sich kein normaler Bürger, weder dies-, noch jenseits des Großen Wassers wünschen, erst recht nicht leisten.
Immerhin: das US-Repräsentantenhaus hat einen Schritt zur Verbarrikadierung der weiteren politischen Karriere des Donald Unberechenbar gewagt: Das Amtsenthebungsverfahren wegen „Amtsvergehen und Fehlverhalten“ („impeachment for high crimes and misdemeances“) ist mit 232 zu 197 (!!!) Stimmen durchgewinkt worden.

Der schwierigere Schritt folgt nach der Amtseinführung Joe Bidens, der das schwere Trump-Erbe zu verwalten hat. Der Senat muss mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Amtsenthebung post factum zustimmen. Anders gesagt: Wenn im Repräsentantenhaus zehn Republikaner Trump-abtrünnig wurden und für die Amtsenthebung stimmten, dann müssen das auch 17 republikanische Senatoren tun, um ihrem launischen Abgott den Weg für künftige politische Rollen zu versperren. Das wird schwierig bis unmöglich, wenn man an die Millionen Wähler denkt, die für den notorischen Lügner gestimmt haben, der das Land zutiefst gespalten hat.

So muss sich sein Nachfolger Biden, trotz aller im Wahlkampf angekündigten Vorhaben, in erster Linie mit dem Zuschütten der tiefen Gräben beschäftigen, die der Eigennutz Trump hinterlassen hat.
Gutes Gelingen dazu kann man Biden ja wünschen.