„Sie sind zwar Verbrecher, aber keine Monster“

Diana Gavra, Rechtsanwältin und Regisseurin des einzigen rumänischen Dokumentarfilms über Taschendiebe

Regisseurin Diana Gavra mit Amar R²ducanu im Parlamentsgebäude bei einer Konferenz über soziale (Wieder)Integration von Personen mit mehrfachen Vorstrafen. Die Veranstaltung wurde von der Nationalen Gefängnisverwaltung u. a. in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium organisiert. Foto: Pintadera Film

Diana Gavrea ist Rechtsanwältin und Lektorin an der Nationalschule für Politik- und Verwaltungswissenschaften (SNSPA) in Bukarest. Sie besitzt einen Doktortitel im Bereich der Roma-Integration und einen Master in Filmproduktion. Im Herbst erhielt ihr Dokumentarfilm „Amar” (2023) den Preis „Neue Perspektiven“ beim Astra-Film-Festival in Hermannstadt/Sibiu. 

In 130 Minuten bekommt der Zuschauer einen tiefen und intimen Einblick in das Leben, die Denk- und Arbeitsweise von Taschendieben. Man lernt Menschen kennen, die auf der Straße aufgewachsen sind, süchtig sind oder waren und die Haftsysteme unterschiedlicher europäischer Länder erlebt haben.


Wie es zu diesem Film kam, was aus den Protagonisten geworden ist und wie man Verbrecher unterstützen könnte, ihrem Milieu zu entkommen – darüber sprach die Regisseurin mit ADZ-Redakteurin Laura Căpățână Juller.

Vor „Amar“ haben Sie den kurzen Spielfilm „Vintage“ über Erinnerungen an den Kommunismus gemacht, ihre Dokumentation „Casa cu lac²t“ nimmt Korruption unter die Lupe. Der erste Film lief erfolgreich auf Festivals im Ausland, der Erfolg des zweiten wurde von der Pandemie überschattet. Wie kamen Sie dazu, einen Dokumentarfilm über Taschendiebe zu machen?

Ich wurde auf dem Markt in Bukarest beraubt und habe den Dieb angezeigt. Amar R²ducanu, der Räuber, ein mittdreißiger Roma, wurde erwischt und hat mich gebeten, die Anzeige zurückzuziehen, weil er nicht wieder hinter Gitter wollte. Von seinen 35 Lebensjahren hat er rund 14 im Knast verbracht. Zu dem Zeitpunkt war er erst vor Kurzem entlassen worden und wünschte sich, bei seiner Familie zu bleiben. Er hat zwei kleine Kinder, für eines davon brauchte er Milchpulver – deswegen hatte er mich beraubt. 

Er hatte versprochen, mir mein Bargeld zurückzugeben. Ich wusste aber, dass er wieder stehlen muss, um mir das Geld zurückzugeben, also bot ich ihm an, die Anzeige zurückzuziehen, wenn er mir erlaubt, einen Film über ihn zu drehen.

Warum hat Sie das interessiert?

Ich habe mir wirklich sehr stark gewünscht, das Leben dieser benachteiligten Menschen, die in einer anderen Welt leben als wir, zu beobachten und mit all ihren Facetten zu zeigen. Wir treffen sie zwar im Alltag, interagieren aber nur im Rahmen von Konflikten mit ihnen. Wegen meiner Arbeit als Anwältin und als Forscherin für meine Doktorarbeit hatte ich natürlich Kontakt zu dieser Randwelt aus verschiedenen Perspektiven und konnte, zumindest theoretisch, eine ganze Reihe von Grenzen und Diskriminierungen beobachten, denen diese Menschen ausgesetzt sind. Im Film konnte ich meine früheren praktischen und theoretischen Erfahrungen nutzen. Und es gibt irgendwann Dinge, die dir keine Ruhe lassen.

Das Thema der Roma-Inklusion beschäftigt Sie schon lange. 

Weil mich das beschäftigt, habe ich die Chance genutzt, einen Film zu drehen, sobald das möglich war. Der Protagonist, der Film, ist praktisch zu mir gekommen. 

Warum wollten Sie seine Geschichte ausgerechnet anhand eines Dokumentarfilms zeigen?

Auch wenn es klischeehaft klingt: das Leben und die Wirklichkeit übertreffen oft unsere Vorstellungskraft. Und das Leben und die Realität der Menschen in ihrem Umfeld so zu zeigen, wie sie sind, scheint mir viel interessanter als jede fiktionale Geschichte. 

Amars Motivation, gefilmt zu werden, ist verständlich. Warum aber wollten seine Freunde, ebenfalls Taschendiebe, im Film erscheinen?

Ihren Wunsch, im Film zu erscheinen, sehe ich als einen Hilferuf, weil sie sich sehr wünschen, gesehen zu werden, und dass die Leute sie so kennenlernen, wie sie sind. Sie sind zwar Verbrecher, aber keine Monster. Sie sind Menschen, haben ihre Probleme, ihre Freuden, ihr Leid. 

Alle wollen das kriminelle Umfeld verlassen. Da sie aber auf der Straße aufgewachsen sind ist Stehlen das Einzige, was sie erlernt haben. Somit fällt es ihnen sehr schwer, etwas anderes zu „arbeiten“ als bisher. Zudem ist unsere Gesellschaft eher verschlossen gegenüber Leuten, die mehrfach vorbestraft wurden und niemand will sie anstellen. Es ist ein Teufelskreis.

Wir bemühen uns aber, gemeinsam mit einigen Vereinen, Arbeitsplätze für sie zu finden.

Arbeiten jetzt manche von ihnen?

Ja, sie wünschen es sich sehr. Aber es ist sehr schwer für sie, weil sie keine Ausbildung haben, sie können nicht schreiben, nicht lesen. Amar, beispielsweise, musste nach Beendung der Dreharbeiten eine ältere Strafe absitzen und ist seit dem 19. Februar dieses Jahres frei. Er hilft bei unseren Dreharbeiten mit, wo es nötig ist. Er hat sein Milieu verlassen, hat nicht mehr gestohlen und wir hoffen, dass er dabei bleibt. Er möchte sich in der Gesellschaft integrieren und muss dafür seinen „Job“ gänzlich ändern. Das ist aber eine riesige Umstellung für ihn. Wir lernen schon im Kindergarten, brav auf dem Stuhl zu sitzen, zu lesen und zu rechnen, wir bereiten uns auf Prüfungen vor, suchen nach Arbeit. Bei ihm ist das total anders und wir müssen uns dessen bewusst werden, dass Leute wie Amar keine Disziplin kennen, so wie wir sie gewohnt sind. Für sie ist es nicht leicht, sich an ein festes Programm anzupassen.

Ich bewundere Amars Bemühungen, sein Leben verändern zu wollen.

Und seine Ehefrau?

Sie arbeitet in einem Geschäft und eines der Kinder geht in den Kindergarten.

Das klingt sehr gut. Können sie von dem Gehalt leben, das sie bekommen?

Diese Menschen können aufgrund ihrer mangelnden Qualifikationen nur sehr wenig verdienen. Von einem Mindestlohn in Rumänien kann wohl kaum jemand leben. Und das ist letztlich eine Form der Ausbeutung.

Im Film geben wir u. a. das historische Trauma der Roma-Ethnie wieder. Vor nicht allzu langer Zeit gab es Sklaverei, das war ein Problem in den rumänischen Ländern. Mit so einem Hintergrund fällt es ihnen jetzt schwer, sich nicht irgendwie ausgenutzt zu fühlen.

Hoffen Sie, dass die Dokumentation die Denkweise der rumänischen Gesellschaft im Bezug auf Menschen wie Amar ändert?
Ich mache Film auch aus Aktivismus, nicht nur wegen der Kunst. Kunst ist wichtig, sie bewegt uns dazu, Fragen zu stellen, aber Film muss auch gesellschaftliche Veränderungen bringen.
Vor allem müssen wir uns bewusst werden, dass es Menschen gibt, die solche Probleme haben und gleichzeitig auch, dass es die nötigen Ressourcen gibt, um Änderungen im Verwaltungsbereich sowie in der Gesellschaft durchzuführen. Diese Leute brauchen Unterstützungsprogramme. Die muss man nicht erfinden, es gibt viele gute Modelle im Ausland. 

Im Film werden erfolgreiche Integrationsmodelle aus Deutschland gezeigt.

Tatsächlich. Dort bietet der Staat Menschen in solchen Situationen Qualifizierungskurse und unterstützt sie mit Sozialwohnungen, Sozialhilfe und Therapie. Dieses Modell könnte man auch hier übernehmen. Im Film sehen wir einen Fall in Deutschland, wo der ehemalige Verbrecher alphabetisiert wird und dann bei Amazon arbeitet. Er verdient 1800 Euro, dazu noch das Kindergeld, und er kann gut leben. In Rumänien hilft ihnen niemand in irgendeiner Weise. Es gibt zwar viele Programme in Gefängnissen, die helfen oder nicht helfen, aber all diese Programme sind für Insassen gedacht, die bereits alphabetisiert sind. Es ist wirklich sehr kompliziert.  
Ich wünschte, es gäbe auch in Rumänien diese Möglichkeit für benachteiligte Personen, wie jene im Film. Es gibt europäische Gelder und norwegische Fonds dafür. Norwegen hat die Integration der Roma in Rumänien unterstützt. 

Rumänische NGOs und Vereine bieten Unterstützungsprogramme und psychologische Beratung, aber sie können keine Sozialwohnungen und -hilfe sichern. Dafür ist politischer Wille nötig.

Die Gesellschaft ist in diesem Bereich ziemlich verschlossen. Wie wurde der Film denn aufgenommen?

Überraschenderweise haben die Menschen diesen Film sehr gut aufgenommen.

Warum ist das überraschend?

Weil ich erwartet hatte, mit Buhrufen empfangen zu werden, wie Babasha beim Coldplay-Konzert. Der Film handelt von einer Randgruppe von Menschen, die eine bestimmte Vergangenheit haben und nicht unbedingt akzeptiert werden. Oft werden sie diskriminiert.

Wo ist der Film zu sehen, welche Laufbahn planen Sie für ihn?

Der Film war bisher auf Festivals zu sehen. Derzeit zeigen wir ihn in Gefängnissen und wir arbeiten daran, ihn in Schulen, Universitäten und Kulturzentren zu zeigen und zu besprechen. Auf der Facebook-Seite des Produzenten, Pintadera Film, geben wir alle weiteren Vorführungen bekannt.

Haben Sie an eine Fortsetzung dieses Films gedacht, um die Veränderungen in den Leben der Protagonisten zu zeigen?

Ja, ich würde gerne weitermachen und verfolgen, wie sie die Freiheit aufnehmen, denn ich habe bemerkt, dass sie in einem eigenen mentalen Gefängnis leben, auf das sie sich andauernd beziehen. Mich interessiert auch ihr Umgang mit der Verantwortung, die die Freiheit mit sich bringt. 

Ein neuer Film hängt aber von den Finanzierungsmöglichkeiten ab und im Moment gibt es keine Finanzierung dafür. Es ist schwierig, so eine Art Film zu realisieren, weil sich die Dreharbeiten über Jahre hinstrecken können, weil ja alles unvorhersehbar ist. Für „Amar“ hatten wir eine Teilfinanzierung vom Nationalen Filmzentrum CNC, das restliche nötige Geld kam von uns, den Produzenten, Pintadera Film und Pro Omnia Cinema. Wir haben auch sehr viel Freiwilligenarbeit gemacht, aber es hat uns Freude bereitet. Wir waren alle sehr involviert – stellen Sie sich vor, heute Morgen passiert etwas Unvorhergesehenes und sie rufen den Kameramann an und sagen: „Was machst du in zwei Stunden? Wir müssen drehen!“

Was haben Sie von den Protagonisten gelernt?

Ich habe vieles von ihnen gelernt. Eines der wichtigsten Dinge ist vielleicht die Lebensfreude. Trotz ihrer Probleme freuen sie sich ihres Lebens in jedem Augenblick, mehr als wir, die vielleicht alles haben. Und ich habe gelernt, Menschen, die Fehler machen, zu vergeben und Leute, die Unterstützung brauchen, zu verstehen. Denn sie brauchen tatsächlich Verständnis und Akzeptanz.

Vielen Dank für das Gespräch!