Sprachliche Diversität in Schulen: Was könnte man von Australien lernen?

Ein Gespräch mit Dr. Annamaria Paolino, Lektorin und Leiterin der Ausbildungsabteilung für Englisch als zusätzliche Sprache

Annamaria Paolino ist Lektorin an der School of Education der Edith Cowan University in Perth, Westaustralien. Sie leitet und koordiniert die Ausbildungsprogramme für Englisch als zusätzliche Sprache oder Dialekt (EALD).

Diversität in Schulen zu managen, kann zugleich Herausforderung wie Chance sein. Australiens Schulen sind für ihre hohe Diversität in den Klassenräumen bekannt. Auf nationalem Niveau sprechen etwa 25 Prozent kein Englisch, in manchen Regionen sind es sogar 90 Prozent. Obwohl klar ist, dass das Managen von Diversität in einer Minderheitenschule, basierend auf einer Gemeinschaft derselben Minderheitensprache, eine andere Dimension hat, mag es lohnenswert sein, einen Blick auf den Ansatz Australiens zu werfen. Dr. Annamaria Paolino von der School of Education an der Edith Cowan University in Perth liefert inte-ressante Einblicke aus Westaustralien. Die Fragen stellen Anna Wolf und Marc Röggla von Eurac Research für angewandte Forschung mit Sitz in Bozen (Südtirol, Italien).  

Können Sie bitte den generellen Rahmen und den Ansatz in Australien für die Integration linguistisch verschiedener Schüler in einem Klassenzimmer erläutern, vor allem in Bezug auf die Grundschule?

In Australien hat jeder Staat seine eigenen Prozesse und Strategien, ich spreche daher aus der Perspektive Westaustraliens. Was den allgemeinen Rahmen betrifft, wir sprechen über das Lehren von „Englisch als zusätzlicher Sprache oder Dialekt“ (EALD). Für diesen Zweck haben wir in Westaustralien Englisch-Intensiv-Zentren (IECs) eingerichtet. Diese können von Schülern aus Migranten- oder Flüchtlingsfamilien besucht werden, aber auch von Australiern, die der englischen Sprache bisher nicht ausgesetzt waren, etwa Indigene oder jene von der Insel Torres Strait. Wir haben 14 solche Englisch-Intensiv-Zentren: Acht in den Grundschulen, vier in den Gymnasien und zwei für höhere Gymnasialklassen. Und dieses Jahr eröffnen wir noch zwei in den Grundschulen.

Diese Englisch-Intensiv-Zentren sind aber nicht separat von der Schule, sondern in diese integriert. Die Klassenräume sind in der Schule. Das  Englisch-Intensiv-Zentrum und die Mainstream-Schule sind nicht an verschiedenen Orten. Sie vermischen sich sozusagen und die Schüler haben gemeinsame Pausen und Mittagessen. Die Schüler der Englisch-Intensiv-Zentren können auch an einigen Aktivitäten der Mainstream-Klassen teilnehmen, zum Beispiel am Musik-, Kunstunterricht oder Sport. Es ist kein Modell, bei dem Schüler aus einer Mainstream-Klasse für eine Zeit herausgenommen werden. Die Schüler in den Englisch-Intensiv-Zentren sind dort in Vollzeit, bis sie ins Mainstream-Programm übertreten.

Meist bleiben die Schüler für 12 Monate im  Englisch-Intensiv-Zentrum, manche können aber auch schon früher in die Mainstream-Klassen  entlassen werden. Andere wiederum brauchen etwas mehr Zeit. Schüler mit einem humanitären Ausweis für limitierten Schulbesuch können auch 24 Monate im  Englisch-Intensiv-Zentrum bleiben.

Welches Bewertungssystem gibt es, um den Fortschritt eines EALD-Schülers einzuschätzen?

Um die Planung, den Unterricht und die Bewertung von Englisch für Schüler aus linguistisch verschiedenen Hintergründen durchzuführen, gibt es sogenannte „progress maps“ (Fortschrittskarten). Die gibt es für die Altersstufen „frühe Kindheit“, „mittlere Kindheit“ und „Sekundärschulphasen“. Die Fortschrittsberichte bewerten vier Arten von Sprachfertigkeit - Sprechen, Hörverstehen, Lesen und Schreiben – auf acht Niveaus. Sie sind nicht verpflichtend, finden aber als effiziente Werkzeuge für Lehrer bei der Beurteilung der Sprachfähigkeit eines Schülers aus der Perspektive von Englisch als Zusatzsprache breite Anerkennung.

Auf welcher Basis entscheidet die Bildungsabteilung über die Einrichtung neuer Englisch-Intensivzentren?

Die Entscheidung, die beiden zuvor genannten neuen Englisch-Instensivzentren zu eröffnen, basierte auf der Kapazität der Schulen, diese aufzunehmen, einschließlich dem Vorhandensein von Räumlichkeiten. Ich weiß nicht, auf welcher Basis die ersten Zentren gegründet wurden, das mag beeinflusst gewesen  sein von einer hohen Dichte an Migranten in bestimmten Regionen. Die beiden neuen Zentren wurden gegründet, weil die Schulen die Kapazitäten hatten, sie auch zu integrieren.

Beugen die Englisch-Intensiv-Zentren einer extremen Sprachdiversität in den normalen Klassen vor?

Australien hat eine multikulturelle Gesellschaft, wir wollen Sprachdiversität nicht „vorbeugen“, wir nehmen sie an und anerkennen die verschiedenen soziolinguistischen Hintergründe der Schüler, während wir aber dennoch ausdrücklich die australische englische Hochsprache unterrichten.

Hat die Gründung von Englisch-Intensiv-Zentren in der Öffentlichkeit Besorgnis ausgelöst hinsichtlich einer ethnischen Trennung der Schüler oder ob sie der Idee der Inklusion widersprechen?

Nein, denn die Englisch-Intensiv-Zentren sind nicht separat. Sie sind in den Schulen, und sie sind nicht nur für Migrantenkinder, sondern für alle Schulkinder, die intensiven Englischunterricht benötigen. Kulturelle Spannungen sind mir da nicht bekannt.

Das australische Schulsystem ist bekannt dafür, dass Schüler mit nicht englischsprachigem Hintergrund in sehr kurzer Zeit auf ein hohes Niveau kommen. Wie erfolgreich ist das Programm des Lehrens von „Englisch als zusätzliche Sprache oder Dialekt“ aus Ihrer Sicht?

Das hängt stark von den Schulen ab, denn die Schulen sind autonom und jedes Englisch-Intensiv-Zentrum wird anders betrieben. Es gibt einen Standard, aber auch viele Unterschiede von Schule zu Schule. Jetzt sind wir ein bisschen unter Druck, weil es einen hohen Bedarf gibt und nicht genug Plätze. Die Zentren haben limitierte Kapazität und manche Schüler können nicht aufgenommen werden. Dann müssen sie die Mainstream-Klassen besuchen und das setzt die dortigen Klassenlehrer hohem Druck aus. Ein anderes Problem ist, dass es Intensiv-Englisch-Zentren nur in Städten gibt und kein vergleichbares Angebot für ländliche oder isolierte Regionen existiert. In Westaustralien haben wir daher eine Schule für Fernunterricht (School of Isolated and Distance Education, SIDE), die Schülern in ländlichen Gegenden Zugang zum Online-Lernen bietet. SIDE hat derzeit ein Versuchsprogramm laufen zu einem Online Supportprogramm für EALD-Schüler und ihre Lehrer, die keinen Zugang zu einem Englisch-Intensiv-Zentrum haben.

Wie funktioniert die Lehrerfortbildung, wie werden die Lehrer für den EALD-Unterricht ausgebildet?

An meiner Universität wird ein verpflichtender EALD-Kurs für Grundschullehrer angeboten, aber nicht alle Universitäten tun dies. Es gibt signifikante Unterschiede in der Lehrerausbildung in Australien, was EALD betrifft. Viele Lehrer erhalten ihre Zulassung, ohne jemals für EALD ausgebildet worden zu sein. Derzeit gibt es keine spezifische Zulassungsbedingung für Lehrer an  Englisch-Intensiv-Zentren, um EALD-Schüler zu unterrichten. Manche Lehrer haben das Gefühl, nicht ausreichend für den Umgang mit EALD-Schülern in ihren Mainstream-Klassen ausgebildet zu sein. Es gibt also einen signifikanten Bedarf und steigendes Interesse an einem spezifischen EALD-Training. Die Bildungsabteilung bietet eine Reihe von professionellen Programmen über die Fortschrittskarten und andere Dinge, damit die Lehrer die Bedürfnisse der EALD-Schüler besser verstehen. Aber es gibt immer noch genug zu tun. Meiner Ansicht nach ist die Verbesserung der Lehrerfortbildung aktuell eine der Hauptherausforderungen des Modells.

Wie begegnet das australische Modell des EALD-Unterrichts den kulturellen Bedürfnissen und Hintergründen der Schüler mit verschiedenen linguistischen Backgrounds?

Zu verstehen, wie die Schüler lernen und ihren Hintergrund zu kennen ist essenziell, vor allem bei jenen mit diversen kulturellen oder Minderheiten-Hintergründen, weil ihre kulturellen und linguistischen Besonderheiten im Klassenzimmer als Assets gesehen werden sollen. Es ist wichtig, ein Umfeld für soziale Inklusion zu schaffen, zu dem der Schüler sich zugehörig fühlt und etwas Wertvolles beizutragen hat. Das setzt voraus, sein Wissen, seine Identität und sein linguistisches Repertoire anzuerkennen. Die Schulen beziehen die Eltern mit ein und bieten Übersetzungs- und Dolmetscherdienste, um die Kommunikation mit den Familien sicherzustellen, die limitierte Englischkenntnisse haben. Schüler zu ermutigen, auch im Klassenzimmer ihre Muttersprache zu benutzten, zeugt von Respekt vor ihrem Sprachhintergrund und unterstützt den Erwerb einer zusätzlichen Sprache, so das Modell für Spracherwerb von Jim Cummins. Die Sprache von zu Hause beizubehalten hilft Schülern, sich wohlzufühlen und unterstützt ihre gesamte sprachliche Entwicklung – im Gegensatz zum reduktionistischen Ansatz der Nur-Englisch-Richtlinie.

Wie wichtig ist die Einbindung der Eltern und der weiteren Community in den EALD-Unterrichtsprozess? Welche Strategien werden hierfür angewandt, um EALD-Schüler zu unterstützen?

Die Eltern in die Bildung ihrer Kinder zu involvieren ist essenziell und die Bildungsabteilung ist sich dessen bewusst. Es ist auch wichtig, dass sich die Eltern in der Schule wohlfühlen, sie als sicheren Ort empfinden. In den Schulen haben wir gratis Übersetzungsdienste und es gibt mehrere multikulturelle Ressourcenzentren, zu denen auch Eltern Zugang haben. Eltern-Kind Zentren für Kinder zwischen null und vier Jahren schaffen einen Sinn für Gemeinschaft und helfen den Familien, das Schulsystem zu verstehen. Zusätzlich gibt es multikulturelle Angebote und Workshops, alles von der Regierung finanziert, und meistens auf dem Gelände der Schulen. Es ist wichtig für Eltern zu verstehen, dass es nicht die Aufgabe der Schule ist, die Muttersprache des Kindes durch Englisch zu ersetzen. Auch sollen sie verstehen, wie wichtig es ist, ihre Sprache und Kultur in ihrem Zuhause und ihrem Umfeld zu bewahren.

Gibt es genug Finanzmittel für die EALD Programme?

Dieses Jahr hat die Regierung 72 Millionen US-Dollar für EALD-Schüler an öffentlichen Schulen in Westaustralien zur Verfügung gestellt. Die Schulen erhalten die EALD-Fonds in Abhängigkeit von der Anzahl der Schüler, die EALD-Unterricht benötigen, was durch eine jährliche Erfassung festgestellt wird. Die Bildungsabteilung in Westaustralien lässt die lokalen Schuldirektionen aber selbst entscheiden, welche Programme und Unterstützungen für ihre EALD-Schüler nötig sind. Außerdem sollen die Schulen ihre Ressourcen gezielt so verwenden, dass der Lernerfolg für alle Schüler maximal ist. Die Mittelzuwendung für Schulen erfolgt nach Kriterien des Wohlbefindens der Schüler, Engagement und Lernbedürfnissen. Schulen können diese Ressourcen verwenden, um Leute mit relevanter Expertise anzustellen (einschließlich Lehrer, Lehrassistenten, zusätzliche Stunden mit Schulpsychologen), sie können Lehrmaterialien zu kaufen oder mehr in Übersetzer für die Kommunikation mit den Eltern investieren, oder in die Zusammenarbeit der eigenen Mannschaft, für Klassenzimmer-Überwachung oder Mentoring- und Coaching-Programme.

Was macht zusammengefasst das australische Erfolgsrezept im EALD-Unterricht aus? Was macht den Unterschied zu anderen Programmen?

Die Schlüsselfaktoren sind die Fortschrittskarten, die einen klaren Weg zum Spracherwerb aufzeigen, und die Englisch-Intensiv-Zentren, die die Schüler auf die Integration in Mainstream-Klassen vorbereiten. Es ist essenziell für ein Schulsystem, dass die Lehrer wissen, wie man ein sicheres Umfeld und eine offene Klassenatmosphäre schafft, wo alle Kulturen und Sprachen willkommen sind. Außerdem braucht das System die notwendigen Finanzmittel, um all diese Dienstleistungen unterstützen zu können.
 
Welche Richtlinien sind für die Zukunft für den EALD-Unterricht in Westaustralien zu erwarten?

Der Schwerpunkt liegt auf der Konsolidierung der laufenden Programme und der Verbesserung von Lernmöglichkeiten. Meine Universität sowie die Bildungsabteilung arbeiten daran, diesen Raum aufzubauen, aber breiter. Praktisch geschieht das heuer in der Eröffnung der genannten beiden neuen Englisch-Intensiv-Zentren.