Über Diesler, verrückte Nachbarn und Krautsuppe

Die österreichische Autorin Barbi Markovic erzählt über die „Die verschissene Zeit“ in Belgrad

Barbi Markovic ist österreichische Autorin serbischer Herkunft, die Germanistik in ihrer Heimatstadt Belgrad und in Wien studierte und seit 2006 in Wien lebt und wirkt.  In Belgrad war sie als Lektorin im Rende-Verlag tätig, 2006 erschien dort ihr erster Roman auf Serbisch, der 2009 unter dem Titel „Ausgehen“ auf Deutsch übersetzt wurde. 2011 bis 2012 war sie Stadtschreiberin in Graz. 2016 veröffentlichte sie ihr Roman „Superheldinnen“, den sie teilweise auf Serbisch und Deutsch geschrieben hat. Barbi Markovic verfasste zahlreiche Kurzgeschichten, Theaterstücke und Hörspiele. 2021 erschien ihr jüngster Roman „Die verschissene Zeit“, aus dem sie im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ in Bukarest, anlässlich des 30. Gründungstages der hauptstädtischen Österreich-Bibliothek, las. Über diesen und ihre Karriere als Schriftstellerin unterhielt sich Barbi Markovic mit DAAD-Lektorin Laura Greber und Redakteurin Cristiana Scărlătescu.

Frau Markovic, wann wussten Sie, dass Sie Schriftstellerin werden wollten?

Mit sieben Jahren war ich mir ziemlich sicher, dass ich Autorin werden möchte, und habe zwei Jahre danach begonnen, einen Roman, welcher einen Hund als Hauptgestalt hatte, zu schreiben. Ich bin nicht über die zehnte Seite weitergekommen. Dann habe ich mich für Lyrik interessiert und gegen Schulende angefangen, im Rende-Verlag zu arbeiten. So war ich immer in Berührung mit der Literatur und der Literaturszene in meiner Heimatstadt. Später, als ich 24 Jahre alt war, gab ich die Hoffnung, Bücher zu veröffentlichen, fast auf. Ein Jahr danach erschien mein erster Roman. Zwischendurch habe ich immer gedacht „Ist dies jetzt mein Beruf oder nur ein Hobby?“ Danach bin ich zu einem Punkt angelangt, wo das Schreiben für mich tatsächlich zum Beruf wurde.

Wie lässt sich der Titel Ihres jüngsten Romans deuten? Würden Sie Ihrer Kindheit, Ihrer Jugend auch diesen Titel geben?

Ich bin relativ normal in Belgrad in einem 12-stöckigen Plattenbau in den 90er Jahren mit der täglichen Krautsuppe und Coca-Cola aufgewachsen. Erlebt habe ich alles, was die 90er Jahre bedeutet haben, darunter Kriege im damaligen Jugoslawien, den Kampf gegen die damalige Regierung. Die letzten 20 Jahre meines Lebens habe ich in Belgrad und in Wien eigentlich damit verbracht, das zu überwinden, was mein Leben in den 90er Jahren in Serbien war, es halbwegs zu vergessen oder einfach weiter zu kommen. In dem Moment, als ich das geschafft habe, kam mir dann plötzlich in den Sinn, dass dies die krasseste Zeit war, welche die Menschen in Ex-Jugoslawien erlebt haben und dass jenes Gemisch von wirtschaftlichen Katastrophen, Kriegen und neuen Technologien, Turbo-Volksmusik und Kleidertrends gleichzeitig ein interessanter und schrecklicher Wahnsinn war, den es wahrscheinlich nicht mehr geben wird. Ich als Autorin muss mich natürlich damit auseinandersetzen, deswegen begann ich darüber zu schreiben. Ich wollte kein autobiografisches Buch schreiben, sondern die Regeln und Codes jener Generation von Jugendlichen, die ich damals mitbekommen hatte, veranschaulichen - und ihnen unter den erwähnten wirtschaftlichen und Kriegsumständen auch Abenteuer geben. So habe ich meine Nachbarschaft und Bekannten, meinen Freundeskreis und meine ganze Umgebung in meiner Erinnerung zurückgerufen und in der Phantasie nachgebildet, um zu sehen, was sich die Leute unter Krautsuppe, verrückte Nachbarin oder „Diesler“ vorstellen. Letztere sind etwa eine Subkultur asozialer, arbeitsscheuer Menschen in Trainingsanzügen oder Prolls. Es war für mich interessant, einen Austausch von Stereotypen, Lebensumständen und Gesellschaftsbildern zwischen Serbien und Österreich zu vollziehen.

Ihr Buch hat eine außergewöhnliche Erzählperspektive aus der zweiten Person. Sie sprechen eine der Hauptgestalten direkt an, interagieren mit ihr. Wie sind Sie auf diese Erzählperspektive gekommen?

Dies ist in Wirklichkeit die Erzählperspektive der Spielleiterin im Rollenspiel. Es gibt eine Du- und Ihr-Perspektive. Das war für mich faszinierend und ich finde, durch diese Art der Ansprache kann man Spannung erzeugen, die in Du-Romanen normalerweise gar nicht entsteht. Die Spielleiterin genießt eine privilegierte Position und hat viel Macht in den Händen! Sie darf nicht nur die Hauptpersonen, sondern auch die Nebengestalten ansprechen und dann auch erzählen, wie die Dinge sind. Ich hatte es auch mit der Ich-Erzählperspektive und der dritten Person probiert. Es wirkte jedoch nicht so magisch und ich hatte nicht so viel Spaß wie mit der Du-Perspektive.

Schimpfwörter spielen eine zentrale Rolle in dem Buch. Welche Bedeutung hat das Fluchen für dich im Allgemeinen und in der Ökonomie des Romans?

Abgesehen davon, dass es etwa 80 Prozent von ihnen, also fast alle diese Schimpfwörter, gibt, die ich nur gesammelt habe, habe ich zum Teil auch einen Geschlechtswechsel gemacht, damit alles ausgeglichener ist. Schimpfwörter stellen Gewalt in der Sprache dar. Als in den 90er Jahren plötzlich ein gewaltiger Systemwechsel auf politischem und sozialem Niveau stattfand und im ehemaligen Jugoslawien Krieg ausbrach, herrschte kein anderes System als das Überleben des Stärksten und man konnte sich nur durchsetzen, wenn man eine Pistole hatte, unverschämt genug war oder Mitglied der Mafia. Diese Gewalt hat sich auf alle Ebenen verbreitet, inklusive unter den Jugendlichen und vor allem in der Sprache. Ausdrücke, die damals ganz normal waren, zum Beispiel, wie meine Mutter sagte:  „Ich töte/schlachte dich!“, wenn ich etwas nicht tun wollte, welche auch im Roman vorkommen, erhalten unter Kriegsumständen eine sehr ernste Bedeutung, zumal in einer gewissen Entfernung vom Schauplatz der Handlung ein echtes Schlachten im Gange war. Es war einfach die passendste Sprache, um  über diese Zeit zu reden. Außerdem, als ich zum ersten Mal mit den Schimpftiraden begann, hat es mir extremen Spaß gemacht, weil sie für mich zu einer Kunstform wurden. Ich habe sie wie Poesie verstanden. Wenn ich jemals Gedichte geschrieben hätte, dann würden es diese Schimpftiraden gewesen sein.

Welche Rolle spielt dabei die Übersetzung ins Deutsche?

Teilweise habe ich die Flüche wortwörtlich übernommen, denn es hätte anders gar nicht funktioniert. Ich finde, die deutsche Sprache ist relativ arm an Schimpfwörtern. Dagegen sind im Serbischen in dieser Hinsicht auch viele Metaphern vorhanden, wie jene mit dem Weizen oder der Steckdose, die ich zum Teil gekannt hatte und zum Teil während meiner Recherche erst entdeckt habe. Damit habe ich den deutschen Wortschatz bereichert. Nichts zu danken! (lacht)

In Ihrem Buch gehen Sie oft scheinbar beiläufig auf die Bedeutung von Zeit und Erinnerungen ein: „Menschen können sich nie (richtig) erinnern. Häufig denken sie, dass sie sich erinnern, aber das stimmt nicht. Alle denken, dass sie sich erinnern, aber sie erinnern sich nicht, oder sie erinnern sich falsch oder sie erinnern sich unterschiedlich, je nach Blickwinkel, und das tun sie auch ein jedes Mal ein bisschen anders. Was für ein Chaos Erinnerungen sind… Alles ist viel komplizierter, als Ihr es wahr haben wollt.“

Das Buch war für mich ein Erinnerungsexperiment und im Zuge dessen habe ich mich mit dem Thema Erinnerung beschäftigt und das Zitat ist mehr oder weniger eine Zusammenfassung von meinem damaligen Forschungsstand. Ich setzte mich dabei mit der Frage „In wieweit können wir uns erinnern?“ auseinander und die Frage ist auch, wer sich erinnert. Mein Versuch war, der Generation von Jugendlichen, denen die Geschichte tatsächlich passiert ist, auch mal eine Stimme zu geben, weil Erinnerung in Serbien ziemlich ein Schlachtfeld ist und „wir“ verlieren im Moment.

Inwiefern ist Ihr Erinnerungsexperiment ein politisches Projekt?

Ich weiß nicht genau, was mit politischer Roman gemeint wird, denn mein Buch versucht keine politische Agenda durchzusetzen, es ist in Wirklichkeit ein Nachdenken über die Gesellschaft. Dadurch ist es ja politisch, weil darin politische Zusammenhänge, welche eine extrem wichtige Rolle spielen, einbegriffen sind.

Vielen Dank für das interessante Gespräch.


„Die verschissene Zeit“ ist ein Abenteuerroman für Jugendliche, der die Zeitreise dreier Jugendlicher auf ihrem Weg durch die 90er Jahre verfolgt. Das Buch dreht sich um die sozial-politischen Umstände der 90er Jahre in Belgrad. Die Protagonisten werden immer wieder durch die Zeit geschleudert – mal finden sie sich im Jahr 1995, mal 1999, dann 1993 wieder – zu unterschiedlichen Ereignissen, die damals in Belgrad stattgefunden haben. Sie müssen sich auf die Suche nach einem magischen Medaillon begeben, um dadurch diesen Zeitstrudel zu stoppen. So werden sie Zeugen der NATO-Bombardierung, der Hyperinflation bis hin zu den Protesten in der serbischen Hauptstadt. Auf ihrer Suche begegnen sie allen möglichen Schwierigkeiten, und um ihrem Unmut, ihrem Ärger auch mal Luft zu lassen, kochen die einen oder anderen Schimpftiraden mit möglichen oder vermeintlich unmöglichen Schimpfwörtern, welche die Leserschaft dabei kennenlernt, hoch.
Der Roman ist der Autorin zufolge wie ein „dirty Harry Potter“. Am Ende enthält er ein Rollenspiel mit Hilfsanleitungen. Buch und Spiel hängen stark zusammen, aber „was zusammenhängt muss man getrennt halten“, meint Barbi Markovic.
„Die verschissene Zeit“ ist nicht nur mit vielen Schimpfwörtern gespickt, sondern auch ein unglaublich witziges und auf vielen Ebenen sehr tief gehendes politisches Buch. Vorigen Monat erschien die zweite Auflage des Romans im Residenz Verlag.