„Unglaublich kompliziert!”

Zwei Frauen, weiß, schwarzer Mund- und Nasenschutz, malen die Initialen BLM (und Graffitis) auf die Wände eines Cafés. Aus Sympathie für die „Black Lives Matter”-Bewegung. Eine Schwarze kommt vorbei. Sie kennt offensichtlich die beiden Weißen, wohl von gemeinsamen Demos der BLM-Bewegung. Man kennt sich also. Die Schwarze ruft den beiden Weißen zu, sofort mit dem Beschmieren der Wände aufzuhören, die Wände nicht mehr zu beschmutzen: Bürger, die die beschmierten Wände sehen, würden unweigerlich sagen, das haben die Schwarzen getan. Aber: „Schwarze tun sowas nicht!” 

Diese gefilmte Szene hat die Historikerin, Politologin und politische Kolumnistin Anne Applebaum (die 1964 geborene Frau des polnischen Ex-Außenministers und Ex-Sejmmarschalls Radoslav Sikorski) auf Twitter postiert und mit einem lapidaren Kommentar versehen: „Eine unglaublich komplizierte Sache!”

Der Reaktionen auf ihr Filmchen gab es viele und sie fielen von einem Extrem in das nächste, von „gar nicht kompliziert” (weil die beiden Weißen vermutlich „Suprematis-tinnen” seien und ihre Kunst ausüben wollen, indem sie die gefühls- und auch gewaltbetonte Demokratiebewegung BLM unterstützen und kompromittieren möchten), bis „ganz einfach”: Die beiden sind „Antifa” und wollen alles mit einer Revolution zerstören. Auf solche Weise eröffnete sich Applebaum die ganze Facettenbreite der von den USA aus weltweit zündenden Proteste, die vom Tod des (anfangs als `sanfter Riese` vorgestellten) George Floyd ausgelöst wurden, der von einem weißen (überhaupt nicht unschuldigen) Polizisten praktisch mit dem Knie im Nacken erdrosselt wurde.

Einfach ist rein gar nichts (vielleicht abgesehen von der nach wie vor in den USA herrschenden Abdrängung der Farbigen in die Zweitklassigkeit – aber auch die ist, beim genaueren Hinsehen, überaus ... kompliziert) bei den Auslösern der Bewegung, dem kriminell gewordenen Polizist und dem der Polizeigewalt zum Opfer gefallenen Kleinkriminellen, der vor seinem Tod 16 Mal flehte, er kriege keine Luft, „I can´t breathe” – ohne Gehör zu finden. Floyds letzte Worte werden von den Demonstranten weltweit variiert: „I´m fed up”; J`en ai ras le bol”; „M-am săturat!” – bis zum griffigen „No justice, no peace!”

Anne Appelbaum sieht in dieser großen Bandbreite die Tatsache, dass jeder – Demonstrant oder nicht – versucht, seine eigene Überzeugung durch öffentliche Manifestation zu potenzieren, während die vielschichtige Realität jedem Recht gibt – und auch nicht. Dazu muss man „auf einem Auge blind sein”: die Argumente der anderen überhören, die Meinungen anderer nicht prüfen und, fallweise, verinnerlichen. Dann bleibt die Realität so kompliziert wie wahrgenommen. Und Demos können in Gewaltausbrüche ausarten. Gewalt aus Gewalt, denkt man an die Ausgangssituation.

G. Floyd war oft wegen Kleindiebstahl und Drogenbesitz verhaftet worden, 2009 saß er nach einem bewaffneten Bandenüberfall auf ein Wohnhaus für vier Jahre im Gefängnis. Wahr ist allerdings auch, dass er nach seiner Freilassung klare Zeichen einer Besserung setzte. Wahr ist ebenso, dass die Autopsie zwar seinen Tod infolge Gewaltausübung auf ihn bestätigte, aber auch, dass er im Blut Opioide und Methamphetamine hatte, dass er die Waren, die er um Falschgeld erwarb, nicht rückerstatten wollte. Der Polizist, sein Mörder, war mehrmals als Gewalttäter im Dienst aufgefallen. Seine Chefs sahen drüber hinweg. Floyd verhaftete er spontan gewalttätig, obwohl der keinen Widerstand leistete. Trotzdem: aus Floyd einen Märtyrer zu machen ist genauso stark wie den mordbereiten Polizisten zu verharmlosen. Die Propaganda hat nichts mit den Taten zu tun. Ist darum alles so „unglaublich kompliziert”!