Im Haus der Donauschwaben im baden-württembergischen Sindelfingen war am Samstag, dem 9. November, einiges los. Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Rumänien, Ungarn und Serbien kamen zusammen, um auf der Kulturtagung „Verhärtete Frömmigkeit im 19. Jahrhundert“ die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit zu unterschiedlichen Themen vorzustellen. Zur Konferenz hatte das St. Gerhards-Werk Stuttgart eingeladen. Es war dies die dritte Veranstaltung einer Reihe von Tagungen, die mit der Ansiedlungsetappe der Donauschwaben begonnen und als zweites Thema „Josephinismus und Aufklärung“ hatte. Die Konferenzreihe, die von Prof. Dr. Rainer Bendel, dem Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Vertriebenenorganisationen, zu der auch das St. Gerhards-Werk gehört, und Robert Pech M.A. veranstaltet wurde, geht im kommenden Jahr weiter.
Mit dem heute rumänischen Banat in Verbindung standen die ersten beiden Vorträge, die auf der Tagung vorgestellt wurden. Eine umfangreiche Präsentation der „Orden im Bistum Tschanad/ Csanád im Banat im 19. Jahrhundert“ bot der Archivar der Römisch-Katholischen Diözese Temeswar/ Timișoara, Dr. Claudiu C˛lin. Dieser schilderte zunächst den geschichtlichen Rahmen der Ordenspräsenz im Banat, die Entstehung und Entwicklung der Diözese Tschanad und ihre Bischöfe im 19. Jahrhundert. Die Diözese Tschanad wurde 1030 von König Stephan von Ungarn gegründet. Ihr erster Bischof war der Heilige Gerhard, ein venezianischer Benediktiner, der 1046 in Buda als Märtyrer starb. Das Bistum wirkte ununterbrochen bis 1552 in Tschanad, als die ganze Region von den Osmanen besetzt wurde. „Nach der Befreiung der Region im Jahr 1716 erwachte das Leben des Bistums wieder, 1730-32 wurde der Bischofssitz nach Temeswar verlegt, aber der alte Name, Bistum Tschanad blieb weiterhin bestehen“, erklärte Dr. Claudiu Călin. Auf dem Gebiet des Bistums Tschanad haben im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche Orden und Kongregationen ihre Tätigkeit entfaltet: Benediktiner, Dominikaner, Franziskaner, Kapuziner, Jesuiten, Barmherzige Brüder, u.a. Man erbaute Kirchen, Klöster, Krankenhäuser, Schulen u.a. Einrichtungen. Claudiu C˛lin nahm die Orden der Reihe nach unter die Lupe, erklärte ihre Besonderheiten und hob die interessantesten Aspekte hervor. So zum Beispiel erzählte er, dass die Barmherzigen Brüder beispielsweise ein Krankenhaus gründeten und später das erste Röntgengerät in Temeswar benutzten. Die Franziskaner und die Jesuiten gründeten u.a. je eine eigene Schule. Die Salvatorianer übernahmen im 19. und 20. Jahrhundert die Seelsorge in drei Pfarreien: Mehala, Elisabethstadt und Altsanktanna. Die Notre-Dame-Schwestern führten nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die besten Mädchenschulen im Banat.
Der nächste Vortrag knüpfte an den vorausgegangenen an: Die Autorin dieses Beitrags stellte den Orden der „Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau“ vor und ging darin insbesondere auf die Anpassungsfähigkeit des von Bischof Alexander Csajághy aus Bayern ins Banat eingeführten Ordens ein. Die Schulschwestern aus München hatten einen besonders guten Ruf, ihre pädagogischen Sonderqualitäten kannte und schätzte der Bischof, der sich die Schulschwestern unbedingt für sein Tätigkeitsgebiet gewünscht hatte. Die Schulschwestern von Notre Dame riefen im Banat 1858 die erste konfessionelle deutsche Schule für Mädchen ins Leben. Die Referentin, die im September ihre Promotion zum deutschen Unterricht im Banat abgelegt hatte, berichtete von der reichhaltigen Tätigkeit der Armen Schulschwestern im Banat, die in der gesamten Region Mädchenschulen eröffneten und unterhielten, in großem Maße von Bischof Alexander Bonnaz unterstützt. Die ursprünglich deutschen Bildungseinrichtungen wurden nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 allmählich magyarisiert – die Schulschwestern waren gezwungen, die ungarische Sprache zu erlernen, wobei nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auch die rumänische Sprache in großem Maße im Unterricht Einzug hielt. Die Notre-Dame-Schwestern passten sich den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandlungen, die die Gesellschaft im Laufe der Jahrzehnte nach ihrer Ankunft im Banat erlebte, erfolgreich an.
Die darauffolgenden Vorträge waren nicht minder interessant: Der Vortrag von Dr. Zsofia Bárány von der Ungarischen Nationalbibliothek Budapest behandelte die Ehedispensationen in der Diözese Tschanad in den 1830er und 1840er Jahren. Sie berichtete über Bischof Josef Lonovics, der von 1834 bis 1848 die Diözese leitete und sich mit Themen wie Eheschließungen unter Verwandten und gemischten Ehen ausei-nandersetzte. Er klärte Rom über die historischen aber auch sozialen Hintergründe solcher Ausnahmeregelungen auf. Dr. Zsofia Bárány hatte sich die Schreiben Bischofs Lonovics angeschaut und diese analysiert.
Der Ethnologe Dr. János Bednárik vom Institut für Ethnologie in Budapest stellte eine Episode aus dem Jahr 1887 in Törökbálint vor, bei der der Ortspriester sich geweigert hatte, an einer Prozession teilzunehmen. Dies führte zu Diskussionen über die damalige im Vergleich zur späteren Rolle des Pfarrers in der Dorfgemeinschaft, aber auch über die Legitimität bzw. Bedeutung einer kirchlichen Prozession im Volksglauben.
Musikalisch ging es nach der Mittagspause zu: Dr. Réka Miklós präsentierte katholische handschriftliche Kantorenbücher aus der Batschka im 19. Jahrhundert. Indem sie die Kantorenbücher von Imre Elme und Jakab Schäffer unter die Lupe nahm, analysierte sie die Mehrsprachigkeit und die Rolle der Kantoren in der liturgischen Praxis, indem sie historische Lieder verglich und einige Passagen vortrug. Sie brachte auch mehrere Kantorenbücher mit. Dr. Miklós Réka stammt ursprünglich aus Siebenbürgen, Rumänien, sie studierte Musikpädagogik an der Transilvania-Universität in Kronstadt/ Brașov und katholische Kirchenmusik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Graz. Sie lebt heute in Senta/Zenta, Serbien. Ihr Vortrag und ihre musikalische Darbietung wurden sehr positiv aufgenommen.
Prof. Dr. Gábor Tüské vom Institut für Literaturwissenschaft in Budapest sprach über Martin von Cochem, einen Kapuzinerpater und Volksmissionar des 17. Jahrhunderts, dessen religiöse Bücher im 19. Jahrhundert auch in Ungarn, d.h. inklusive im Banat durch ihre zahlreichen Ausgaben weit verbreitet wurden. Forscher Robert Pech bot den Teilnehmern eine kurze Zusammenfassung des Referats, den Prof. Dr. János Ugrai vom Institut für Geschichte der Universität Miskolc ausgearbeitet hatte. Das Referat trug den Titel „Die Auswirkungen der ‚protestantischen goldenen Freiheit‘ auf das Schul- und Kirchenleben in Ungarn“. Der Referent konnte aus Krankheitsgründen nicht an der Tagung teilnehmen.
Die wissenschaftliche Tagung in Sindelfingen war eine gute Gelegenheit, die Rolle, die das Christentum im Leben der Donauschwaben, sowohl gesellschaftlich als auch politisch und kulturell, von ihrer Ansiedlung im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart spielte, zu analysieren. Geistliche Amtsträger fungierten oft als Vermittler zwischen den Dorfgemeinschaften und den staatlichen Behörden und waren erfolgreich als Lehrer und Erzieher der Gläubigen. Im 19. Jahrhundert führten die „Nationalisierung“ der Religion und die „Sakralisierung“ der Nation zu neuen Identifikationsfiguren für die Donauschwaben. Die Tagung im Haus der Donauschwaben untersuchte die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die deutschsprachigen Katholiken in der damaligen österreichisch-ungarischen Monarchie.
„Ich empfand es als sehr anregend und lehrreich. Ich habe anhand dieser konkreten Beispiele sehr viele neue Aspekte bzw. alte Aspekte in einer neuen Form entdeckt und auch gesehen, welche Bestrebungen dahinter stehen, den Menschen in ihrer Zeit jeweils gerecht zu werden“, sagte Prof. Dr. Rainer Bendel, katholischer Theologe, Kirchenhistoriker und Hochschullehrer, im Anschluss an die Konferenz.
Im Mai nächsten Jahres soll auf einer neuen Tagung die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den politischen Umordnungen nach dem Ersten Weltkrieg beleuchtet werden, informierte Prof. Dr. Rainer Bendel. Spielen Kriegserfahrungen in der Seelsorge eine Rolle? Wie gehe ich mit der zunehmenden Nationalisierung und der Politisierung des Nationalen in der Kirche um? Wie positioniere ich mich zu autoriäten Tendenzen im Gesellschaftsaufbau? Auf diese und viele weiteren Fragen werden die an der wissenschaftlichen Tagung des St. Gerhards-Werks am 18. Mai 2025 in Sindelfingen teilnehmenden Forscherinnen und Forscher Antworten zu finden versuchen.