Verwobene Geheimnisse der Textilindustrie

Umfangreiches Projekt erforscht Temeswarer Industrieleben von gestern und heute

Das alte Textilwerk „1 Iunie“ soll demnächst abgerissen werden. An dessen Stelle wird ein moderner Wohnungskomplex entstehen. Doch davor lud FABER alte und jüngere Mitarbeiter der Fabrik ein, ihre Geschichten zu erzählen, um ein großes Sammelalbum mit Erinnerungen an das Leben und die Arbeit in den Fabriken zu erstellen.

Geschichten, wie Fäden miteinander verbunden: Beim ersten Nachbarschaftsfest bei FABER konnten die Teilnehmer ihre Spuren an einem alten Webstuhl hinterlassen. | Fotos: FABER

Mitte August veranstaltete das unabhängige Kulturzentrum FABER sein erstes Nachbarschaftsfest. Der Name der Veranstaltung, „Secrete întrețesute“ (verwobene Geheimnisse) wurde von der ehemaligen Temeswarer Textilfabrik „1 Iunie“ und den Geschichten inspiriert, die in das Leben derer eingewoben sind, die durch ihre Türen gegangen sind. Ziel des Festivals war es, die Bewohner der Fabrikstadt zusammenzubringen, um sich zu treffen, zu interagieren und die Gemeinschaft, zu der sie gehören, zu feiern. Zu den Besuchern gehörten auch ehemalige und aktuelle Arbeiter der Textilfabriken in Temeswar/Timișoara, die über ihre Arbeit und ihr Leben in diesen Werken berichteten. Das Nachbarschaftsfest ist nur ein Teil des Projekts „Secrete întrețesute“ und des Designprogramms, das bis zum Spätherbst von FABER durchgeführt wird.

Im Rahmen des Projekts sammelt FABER die Geschichten von Menschen, die in den Textilfabriken von Temeswar gearbeitet haben. Ziel der Initiative ist es, ein großes Sammelalbum mit Erinnerungen an das Leben und die Arbeit in den Fabriken zu erstellen und Geschichten darüber zu erzählen, was hier gewesen ist und was hier sein wird. Jeder, der in einer Textilfabrik in der Stadt gearbeitet hat, konnte bis zum 31. August einen Beitrag leisten, indem er bei FABER eine Erinnerung an das Leben in einem der ehemaligen Textilwerke in der Bega-Stadt mit der Öffentlichkeit teilte. Die Veranstalter haben zahlreiche solche Geschichten online, via E-Mail, aber auch im hauseigenen Kulturzentrum sowie jede Woche auf dem Badea-Cârțan-Marktplatz gesammelt. „Uns hat es tatsächlich überrascht, zu sehen, wie viele Menschen ihre Erlebnisse mit uns teilen wollten. Die Fabrikstadt war früher der Ort, wo viele solche Werke aus der Textilindustrie zu finden waren, darunter ‘1 Iunie’, ‘ILSA’, die Strumpfwarenfabrik oder die Pelzfabrik, und daher wohnen auch heutzutage zahlreiche ehemalige Mitarbeiter weiterhin in diesem Stadtviertel“, sagt Oana Simionescu, die Geschäftsführerin von FABER.

Die gesammelten Geschichten, aber auch Objekte, die entweder von der verlassenen ehemaligen Fabrik gewonnen oder von den Mitarbeitern selbst für diesen Zweck gespendet wurden, werden auf einer Website in ein digitales Archiv hochgeladen, sowie auch Teil der Ausstellung „Secrete între]esute“, die im Oktober bei FABER eröffnet wird. Die Ausstellung soll aber auch rumänische Designer zusammenbringen. Diese werden Designarbeiten präsentieren, die auf der Forschung des Soziologen Norbert Petrovici von der Babeș-Bolyai Universität in Klausenburg/Cluj-Napoca über die Textilindustrie in Temeswar und Rumänien basieren. Themen wie Recycling, Upcycling und Lieferketten werden in originellen Designarbeiten umgesetzt.

In dieser Ausstellung werden auch Arbeiten von Studenten aus Temeswar gezeigt, die im Rahmen des Programms „Young Matters“ entstanden sind. Das Programm ist die Bildungskomponente des Designprogramms von FABER, bei dem sich Studierende mit einer Idee oder einem Projekt für ihre Gemeinde, ihr Viertel oder ihre Stadt bewerben können. Wenn sie ausgewählt werden, nehmen sie an einem eintägigen Ideathon mit anderen Studierenden aller Fakultäten teil, der von drei internationalen Design-Tutoren geleitet wird. Das Bewerbungsverfahren läuft noch bis zum 1. September. Details dazu sind von der Webseite faber.ro/open-call-young-matters/ aufrufbar.

Das aktuelle Forschungsprojekt ist Teil eines umfangreichen Programms, das von FABER im Vorjahr gestartet wurde und auch noch in den kommenden zwei Jahren umgesetzt wird. Im Kulturhauptstadtjahr wurde das Projekt „Bright Cityscapes“ durchgeführt. Die Ausstellung „Bright Cityscapes: Mirroring the Ecosystem“ war Teil des offiziellen Eröffnungsprogramms von „Temeswar 2023 - Europäische Kulturhauptstadt“ und ist infolge einer Zusammenarbeit des Kulturzentrums mit der TU „Politehnica“ Temeswar entwickelt worden. Die Ausstellung gab einen Ausblick auf eine kontinuierliche und multifokale Forschung über die Wirtschaft von Temeswar. Das Thema im Vorjahr war, die Automobilindustrie von gestern und heute in der Bega-Stadt unter die Lupe zu nehmen. Dieses Jahr steht die Textilindustrie im Fokus, wobei in den kommenden Jahren die Chemie- bzw. die Lebensmittelindustrie und deren Netzwerke analysiert werden.

Die Industriestadt Temeswar ist bereits seit der Gründung des unabhängigen Kulturzentrums FABER ein Thema, denn das Zentrum liegt auf dem Gelände der ehemaligen Öl- und Seifenfabrik, die seit 1844 in der Fabrikstadt am Ufer des Flusses Bega in Betrieb war, später 1948 Fabrica Lumina hieß und in der jüngeren Geschichte der Stadt Teil des Azur-Betriebs war. Hinter diesem Projekt steht eine Gruppe von Temeswarern, die in der Kultur-, Bürger- und Geschäftswelt eine wichtige Rolle spielen und beschlossen haben, ihre Kräfte und finanziellen Mittel zu bündeln, um dieses Projekt ins Leben zu rufen. Sie haben seit 2017 in dieses Projekt 1,2 Millionen Euro investiert. Das Zentrum ist seit 2020 offen.

Gleich nebenan auf der Peneș-Curcanu-Uferstraße ist auch das Gebäude der ehemaligen Textilfabrik „1 Iunie“ zu finden. Das Gelände wurde neulich vom Bauträger Speedwell gekauft. Hier soll ein neues Immobilienprojekt entstehen. Es ist das zweite Projekt des Unternehmens mit belgischen Anteilseignern in Temeswar. Speedwell hat auch auf dem Gelände der ehemaligen Hutfabrik „Paltim“ einen Wohnkomplex errichtet. Das neue Projekt wird Wohn-, Büro- und Gewerbeflächen umfassen. Das von „1 Iunie“ erworbene Grundstück umfasst die Gebäude der ehemaligen Textilfabrik mit einer bebauten Fläche von rund 33.000 Quadratmetern.

Die Fabrik „1 Iunie“ wurde 1925 gegründet. Die 45 Mitarbeiter von damals stellten Socken für Kinder her. 1948 wurde das Werk nationalisiert und ist zur Herstellung von Kinderkleidung übergegangen. In den 70er Jahren hatte das Werk rund 4800 Angestellte. Nach der Wende wurde die Fabrik privatisiert, konnte sich aber den neuen Anforderung des kapitalistischen Marktes nicht anpassen. Der Bankrott konnte nicht vermieden werden. Die Fabrik wurde 2016 endgültig geschlossen. 2023 wurde das Gelände versteigert und vom Bauträger Speedwell für über 7,25 Millionen Euro erworben.