Vorsichtige Vermutungen: Expertenstimmen zum Kachowka-Staudamm 

Ursachen wie Folgen des Dammbruchs bei Cherson sind weiter unklar

Der Ort Oleschky vor der Überschwemmung am 15. Mai 2023 (oben) und nach der Überschwemmung am 7. Juni 2023. Foto: Uncredited/Satellite image ©2023 Maxar Technologies/AP/dpa

Eine „neue Dimension“ im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nannte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz die Sprengung des Kachowka-Staudamms bei Cherson. Die Wassermassen des Stausees, viermal so groß wie der Bodensee, überfluten seitdem die Region. Dennoch widerspricht Christian Mölling von der deutschen Gesellschaft für internationale Politik der Einschätzung des Bundeskanzlers: „Russland hat schon sehr lange auf all diese Dinge zurückgegriffen, die laut Kriegsvölkerrecht verboten sind, und sich dadurch neue Handlungsräume geschaffen. Für uns, für den Westen und auch für die Ukraine sind diese Handlungen nicht möglich, und Russland schafft sich dadurch einen Vorteil, indem es sich immer weiter von Kriterien der Humanität entfernt“. Aber ob es überhaupt die russische Armee war, die den Staudamm gesprengt hat, und ob Russland dadurch Vorteile erzielt – bei diesen Fragen herrscht unter Experten Zweifel.

Gesprengt, beschossen oder einfach gebrochen?

Der österreichische Militärexperte Oberst Markus Reisner nannte letzte Tage gegenüber dem ZDF drei mögliche Ursachen: Eine gezielte Sprengung durch die russischen Truppen, gezielter Beschuss durch die ukrainische Armee oder ein Dammbruch infolge bestehender Beschädigungen sowie der mangelnden Wartung der letzten Monate. Andere Experten weisen allerdings auf eine weitere Möglichkeit hin: Die russische Armee hätte zwar den Sprengsatz gelegt, aber nicht in der Absicht, den gesamten Damm zu sprengen. Darauf weist etwa Christian Mölling hin: Laut ihm ist es wahrscheinlicher, dass die Russen den Sprengsatz gelegt haben, aber eigentlich „nur das Wasser ein wenig anheben und nicht das gesamte Delta unter Wasser setzen“ wollten.

In der Mittwoch-Ausgabe der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ erschien ein Interview mit einem stellvertretenden Verwaltungschef einer der betroffenen Regionen, der auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet geflohen ist, aber dennoch anonym bleiben will. Ihm zufolge haben die russischen Besatzer beim Rückzug im November die Brücken über dem See gesprengt und dabei drei der 27 Tore des Damms sowie den Turbinenraum beschädigt, dem Personal sei anschließend der Zugang verwehrt worden. Daher konnte der Wasserstand nicht mehr reguliert werden und stieg im Frühjahr auf 17 statt der vorgesehenen 16,5 Meter. Der Beamte glaubt, dass die Russen nicht den ganzen Damm sprengen, sondern etwas „Wasser ablassen“ wollten, dabei aber die Sprengladung und den Druck auf den Damm unterschätzt hätten. Er geht davon aus, dass der Damm unterirdisch vermint worden war – Anwohner hätten keine Explosion gehört, sondern ein Erdbeben gespürt.

Was spricht für eine Sprengung durch Russland?

Simon Schlegel, Experte von der „International Crisis Group“, zeigte sich in der Frage der Schuldzuweisung vorsichtig: Die Situation sei sehr kompliziert, und ihm fehle das nötige Ingenieurs-Wissen, um einschätzen können, was zum Dammbruch geführt haben könnte. Aber: „Es ist natürlich so, dass die ganze Situation erst dadurch entstehen konnte, dass Russland die Ukraine illegal angegriffen hat – wenn die russischen Panzer nie an den Dnjepr gerollt wären am 24. Februar 2022, müssten wir diese Frage gar nicht diskutieren.“ Russland habe den ganzen Winter über lebenswichtige Infrastruktur gezielt zerstört, daher würde die Sprengung des Dammes zur Handlungsweise passen.

Markus Reisner hält es hingegen für am wahrscheinlichsten, dass die Russen hinter der Sprengung stünden – zuvor hätten sich die Indizien verstärkt, dass die ukrainische Gegenoffensive von der Vorbereitungs- in die Entscheidungsphase übergehe: Am Vortag, also Montag, habe es Berichte gegeben, „(...) wonach amphibische Einheiten der  ukrainischen Streitkräfte südlich von Cherson gelandet wären, was dafür spricht, dass die Russen versucht haben, durch die Zerstörung des Staudammes zu verhindern, dass der Bereich südlich von Cherson militärisch nutzbar ist“, so Reisner. Sofern die ukrainischen Pläne vorgesehen hätten, die russischen Truppen an verschiedenen Stellen der Front zu binden, etwa durch die Anlandung amphibischer Streitkräfte im Süden, so sei dieser Plan jetzt durch die Sprengung verhindert worden.

Dagegen schätzt der Militärhistoriker Sönke Neitzel den Einfluss der Sprengung auf den Kriegsverlauf als „begrenzt“ ein, da er es für „sehr, sehr unwahrscheinlich“ hält, dass eine der beiden Kriegsparteien über den Fluss hinweg angreifen würde. Auch in der Geschichte habe sich gezeigt, dass Dammsprengungen zwar oft schlimme Folgen für die lokale Bevölkerung, aber kaum Einfluss auf Kriegsverläufe hätten.

Welche Nachteile ergeben sich für Russland?

Allerdings hat der Dammbruch auch für Russland negative Folgen: Die Region am rechten Ufer des Dnjepr, die von Russland kontrolliert wird, ist laut Simon Schlegel tiefer gelegen, die Soldaten müssten ihre Stellungen daher sehr weit vom Fluss zurück in höheres Gelände bringen – „der direkte Effekt der Flutwelle trifft die Russen erstmals verheerender als die Ukrainer, die haben sich ja in dieser Gegend sehr stark eingegraben, ihre Stellungen erheblich ausgebaut in Erwartung der lang angekündigten Gegenoffensive der Ukrainer“ – diese werde nun nach dem Dammbruch hier wohl kaum stattfinden können. Möglicherweise habe so etwas Zeit gewonnen werden können, weil die ukrainische Gegenoffensive aufgrund der Evakuierungsarbeiten etwas verzögert würde – „aber auf lange Sicht, würde ich sagen, ist es auch für die Russen kein Gewinn“, so Schlegel.

Auch eine mögliche Gefährdung der Trinkwasserversorgung auf der von Russland besetzten Halbinsel Krim sieht er nicht allzu gewichtig: Einerseits habe Russland häufig bewiesen, dass auf die Bevölkerung wenig Rücksicht genommen werde, andererseits hätten die Menschen auf der Krim in den acht Jahren, in denen der Kanal zum Stausee nicht existiert habe, andere Wege der Versorgung gefunden.

Mit welchen weiteren Folgen ist zu rechnen?

Als viel größeres Problem erachtet Schlegel den sich abzeichnenden Wassermangel für die Landwirtschaft auf der Krim, aber auch für die Südukraine, die auf das Wasser aus dem Stausee angewiesen ist – dieses Wasser fließe nun, kurz vor der Erntezeit, auf direktem Weg ins Schwarze Meer. „Die Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka wird dazu führen, dass sich die Felder im Süden der Ukraine bereits im nächsten Jahr in Wüsten verwandeln könnten“, hieß es auch seitens des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums.

Mit sich bringen die Wassermassen nicht nur Algenschlamm, der riesige Gebiete bedecken werde, sondern auch zahlreiche Minen – schließlich sei die Gegend, so Schlegel, die am stärksten verminte Region der Welt. Dies beklagt auch Erik Tollefsen vom Internationalen Roten Kreuz: Die Landminen in der Region seien in den letzten Monaten in Karten verzeichnet worden, jetzt aber durch die Damm-Katastrophe weggespült, sodass niemand mehr wisse, wo sie sich befinden. Es handle sich um Antipersonenminen sowie Antipanzerminen, die nun sowohl Bevölkerung als auch Rettungskräfte gefährden.

Zudem werde befürchtet, dass mindestens 150 Tonnen Maschinenöl und zahlreiche weitere Schadstoffe in den Dnjepr gelangt sind, die nun das Ökosystem des Flusses und des Schwarzen Meeres gefährden – und damit alle Menschen, die von diesen abhängig sind. 

Und das Atomkraftwerk Saporischschja?

In Bezug auf das Atomkraftwerk Saporischschja wurde zunächst beruhigt – das Kühlwasser komme aus einem eigenen Reservoir. Außerdem komme uns nun paradoxerweise zugute, dass das AKW schon länger unter Beschuss steht. Denn aus diesem Grund sei dort eine Delegation der Internationalen Atombehörde stationiert, zu einer tagelangen Vertuschung wie etwa im Fall der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl könne es im Ernstfall folglich nicht kommen.

Langfristig ergibt sich jedoch das Problem, dass das Atomkraftwerk laut Schlegel durch die Entleerung des Stausees wohl bald etwa einen Kilometer vom Wasser entfernt sein wird – was bedeutet, dass große Ingenieursarbeiten durchgeführt werden müssten, um die Versorgung mit Kühlwasser zu ermöglichen – mitten im Kriegsgebiet.