„Weg mit den Telefonen, wir sollten selber präsent sein!“

Ein Wahlamerikaner aus Rumänien macht Karriere als Gitarrist und nicht nur

Tavi Jinariu | Foto: Klaus Philippi

„Es gibt einen amerikanischen Egozentrismus, den man hier nicht pflegt“, räumt Tavi Jinariu aus Los Angeles an einem heißen Juli-Samstag im Hof des Erasmus-Büchercafés Hermannstadt/Sibiu ein. Abends zuvor hat er in der evangelischen Johanniskirche nebenan ein Konzert gegeben und sich davon überzeugt, dass schöne Musik auch in Europa gerne telefonisch genossen wird. Dabei hat Gitarrist Tavi Jinariu sein Instrument zu einer Zeit spielen gelernt und in den USA studiert, als der digitale Kulturkonsum in den Kinderschuhen steckte. Mehr als die Hälfte seines Lebens hat er schon in Amerika verbracht. Die folgenden acht Fragen und Antworten aufgezeichnet hat Klaus Philippi.

Tavi Jinariu, auf was für einer Gitarre hast du gestern Abend das Konzert gespielt?
Aus Platzmangel bin ich diesmal ohne Gitarre im Gepäck aus den USA nach Rumänien gereist. Meine Frau und ich sind mit unseren vier Kindern und unserem Hund unterwegs, und die Umsteigezeit an einem der Flughäfen war auch etwas länger. Vor einigen Jahren aber habe ich einem Freund hier eine klassische Gitarre aus China für 300 Dollar verkauft, und ihn problemlos bitten können, sie mir jetzt für dieses eine Konzert zu überlassen. Niemand im Publikum wäre darauf gekommen, dass es nicht mein eigenes Instrument ist. Zuhause in Los Angeles hingegen habe ich etwa 20 Gitarren: jeder Konzertsaal klingt anders, grundsätzlich gibt es die Unterschiede zwischen dem Auftreten mit Orchester oder Kammermusik, und das Repertoire hat seine spezifischen Anforderungen. Modernes erfordert eine Gitarre mit modernem Klang, wogegen für Stücke wie gestern eine alte Gitarre mit alter Stimme und der Neigung zum Poetischen gefragt ist.

Mit was für einem Instrument bist du in deine USA-Laufbahn gestartet?
1998 war das Jahr meiner ersten Reise überhaupt in die USA, als Mitspieler auf einer drei Monate langen Tournee. Ich hatte noch keine eigene Gitarre und spielte auf einem Leihinstrument, das ausgerechnet aus der Produktion der rumänischen Fabrik „Hora“ in Sächsisch-Reen/Reghin stammte. Mein Pech, dass irgendwann ein Stimmschlüssel brach und ich von da an bis Ende der Tournee  jeweils mit einer Greifzange auf die Bühne gehen musste, um die davon betroffene Saite dennoch stimmen zu können. Bescheidene Anfänge, doch das zählt nicht, wenn der Wunsch da ist, etwas zu erreichen.
Als kleiner Junge war ich von Musik und dem Gitarre-Spielen sehr besessen und imitierte in der Schulbank das Greifen der Saiten mit den Fingern meiner linken Hand auf dem rechten Unterarm. Auch eine kleine Gitarre aus Plastik besorgte ich mir und versuchte ohne Erfolg, sie zu stimmen. Auf der Straße versuchte ich, mir Töne von Autohupen genau einzuprägen.

Im Konzert gestern hast du vor den Passagen des „Preludio de Adios“ von deinem Freund und Komponisten Alfonso Montes aus Venezuela die gemischten Gefühle angeschnitten, die ihm wegen der politisch motivierten Zwangsemigration aus seinem Heimatland keine Ruhe ließen. Wie war das bei dir und deiner zweiten USA-Reise, als du schon wusstest, endlich länger dort bleiben zu wollen?
Auf dem Tournee-Plan 1998 stand auch ein Konzert im südlichen Kalifornien, das vor bis zu 4000 Zuhörern hätte stattfinden sollen, nur dass leider die Gastgeber ihr Publikum ungewollt falsch über den Termin informiert hatten und im Zuschauerraum kaum mehr als zehn Leute zu zählen waren. Die größere Gruppe war auf der Bühne, und mich packte nach der langen und ermüdenden Fahrt zum Konzertsaal sofort der Ärger. Ohne mein Wissen aber nahm eine Zuhörerin auf, was ich solistisch vortrug, und schickte diese Aufzeichnung etlichen berühmten Gitarristen aus den USA, unter ihnen auch Christopher Parkening, damals der Michael Jordan der klassischen Gitarre.
Nach der Tournee kam ich nach Hause zurück, um zur Schule zu gehen und das Abitur abzulegen, und stellte überrascht fest, dass Christopher Parkening mir CD´s sowie Noten geschickt und einen Brief beigelegt hatte. Er hatte erkannt, dass ich hart an mir arbeitete und den Mut aufbrachte, ein von mir selbst komponiertes Stück vor Zuhörern zu spielen.
Ich schrieb ihm, welche Stücke ich gern spielen können wollte, und las seinen Vorschlag, ihm Videokassetten meines Gitarre-Spiels zu schicken. E-Mails waren mir damals noch nicht möglich. Stattdessen erhielt ich von Christopher Parkening Beratungen per Brief: lass die Fingernägel der rechten Hand auf diese Art wachsen, ändere so die Haltung deiner linken Hand. Nach einem halben Jahr eröffnete ich ihm, sehr gern klassische Gitarre studieren zu wollen, in Rumänien aber kaum Optionen zu haben. In Rumänien hatte sich noch keine bestimmte Gitarren-Schule formiert; wer sich an einer Hochschule auf ihr ausbilden lassen wollte, ging nach Österreich, Deutschland oder Spanien. Unter der Bedingung, dass ein gewisser Tavi Jinariu ein Stipendium erhält, nahm Christopher Parkening die Job-Offerte einer Universität in Los Angeles an. Alles Geld, das er als Professor für klassische Gitarre an der Universität verdiente, spendete er ihr danach zurück.

Dein Spiel ist überdurchschnittlich feingliedrig. Wie schaffst du es in einer Welt, in der Menschen immer härter angefasst werden, das Ruhegefühl als Musiker und die Geduld mit der Gitarre nicht zu verlieren?
Den Entschluss, mich nicht auf das Gymnastische zu konzentrieren, habe ich sehr früh gefasst. Denn auf der anderen Seite der Erde gibt es immer ein acht Jahre altes Kind, dem Technisches besser gelingt. Virtuoses bleibt nicht im Gedächtnis haften, die seelische Wirkung dagegen schon.
1987, als Andrés Segovia, der Vater der klassischen Gitarre, starb, schlug der Zeiger in die Richtung aus, gegen die er sich zeitlebens gewehrt hatte. Die Gitarre wurde in reaktionärer Bewegung auf Segovia aus dem Konzertsaal gestrichen und zum Instrument von Festivals und Wettbewerben gemacht, dem breiten Publikum weggenommen. Dabei hatte Segovia zuvor das Gitarren-Monopol der Flamenco-Spieler gebrochen und ihr Instrument in die großen Konzertsäle gebracht. Beim Wort Gitarre dachte man automatisch an ihn, der so außergewöhnlich musikalisch und empfindsam zu spielen pflegte. Er behandelte alles romantisch, und sogar Johann Sebastian Bach spielte er flexibel statt strikt gemessen. Er betonte, dass „Bach gespielt werden muss, wie man ihn fühlt.“ Nach dem Tod von Segovia wurde die Gitarre zum Objekt einer technischen Übung degradiert.
Allgemein wird nicht mehr mit dem Timbre changiert. Moderne Gitarren sind zwar sehr laut und leicht zu spielen, reagieren aber kein bisschen darauf, ob man über der Rosette oder woanders an den Saiten zupft. Ich bin kein Freund monotonen Klangs in einer langweiligen Standardlautstärke, sondern Verfechter des Suchens von Berg und Tal. Ohne Auf und Ab gibt es keine Emotion, keine Überraschungen. Mehr als fünf bis zehn Gitarristen, die mit einem schönen und zugleich sehr wandelbaren Klang spielen, findet man nicht auf der Welt. Eine verlorene Kunst. Doch ich glaube, sie wird eines Tages wieder aufkommen.

Plötzlich klingelnde Smartphones, unangenehm laut raschelndes Bonbonpapier, Reizhusten-Anfälle unter den Zuhörern und dazu noch der Straßenverkehrslärm von draußen – wie gehst du damit um?
Ein Auto vorbeifahren hören? Das ist das Schöne! Segovia dagegen war mit nichts davon einverstanden. Einmal sogar hat er mitten im Stück zu spielen aufgehört, aufgestampft, sein Taschentuch gezückt und vorgemacht, wie unauffällig zu husten wäre, wenn unbedingt nötig! Ich für meinen Teil finde nicht, dass solche Störungen mich vom Publikum trennen müssen. Etwas anderes hat mir gestern Abend das Spielen erschwert: dass ich just im peripheren linken Blickfeld aufpassen musste, nicht von zwei kleinen Mädchen im Alter von etwa vier bis fünf Jahren abgelenkt zu werden, die auf ihren Stühlen nebeneinander ständig zappelten. Das war richtig anstrengend, mich trotz ihnen auf das zu konzentrieren, was die linke Hand macht.
Lampenfieber ist ein Thema für sich. Doch ich bin es gewohnt, den Aufführungsraum bereits vor dem Gang auf die Bühne gedanklich präsent zu haben, und weiß, was körperlich vor sich geht, mit allem Adrenalin und so weiter. Und es ist enorm wichtig, wie man geübt hat: nur genaue Vorbereitung hilft, wenn Störgeräusche wie Husten oder Ablenkungen wie unruhige Kinder das Konzert zu behindern drohen.

Wie hat sich für dich als Zuwanderer der Alltag in den USA um die Jahrtausendwende angefühlt, und wie anders erlebst du ihn heute nach 25 Jahren, zumal auch das New Yorker Attentat vom 11. September 2001 in deine Anfangszeit vor US-amerikanischer Kulisse fällt?
Der 11. September 2001 war ein Schock, der größte Angriff auf die USA seit Pearl Harbor 1941. Ich denke, die Leute sind vorsichtiger und verschlossener geworden. Was mir wegen kommunistischem Background auffällt, ist das sehr beständige Abdriften der USA in genau diese Richtung: die Regierung wächst, ihr Kontrollanspruch steigt immer mehr, die Steuer- und Gebührensätze steigen, und das reduziert die Freiheit des Einzelnen. Ästhetisch steht zu Buche, dass Leute nicht mehr so einfach wie früher zu beeindrucken sind, und die Häufigkeit von Konzerten kontinuierlich abnimmt. Soll heißen, dass man nicht mehr in eine Oper oder in ein zwei Stunden langes Konzert geht, sondern sich mit Substitution und Komprimierung zufrieden gibt, mit einem gerade mal 30 Sekunden langen Clip auf Instagram. Was den Leuten fehlt, ist die Fähigkeit zu ihrer Präsenz in der Gegenwart. Sie nehmen das Konzert mit der Video-Kamera ihres Smartphones statt ihren eigenen Sinnen auf, werden es aber niemals nachverfolgen. Weg mit den Telefonen, wir sollten selber präsent sein! Noch ist die Musik nicht von künstlicher Intelligenz verdrängt worden, noch gibt es Zuhörer mit dem Bedürfnis nach der lebendigen Musik.

Welches Rumänien musst du auf deinen Rückreisen in die USA jeweils zurücklassen, obwohl du es gerne mitnehmen würdest?
Das hier zum Beispiel. Wenn jemand eine Stunde für ein Gespräch wie jetzt bei einem Kaffee bereithält, in aller Ruhe und ganz ohne Telefone. Im Großraum LA jedenfalls, wo meine Familie und ich leben, ist alle Welt permanent gehetzt unterwegs. Wobei es auch Frustrierendes gibt, was ich gerne in Rumänien zurücklasse. Eben vor eineinhalb Wochen hat meine Frau sich leider hier eine kleine Lungenentzündung geholt, und obwohl der Arzt ihr inklusive der Angabe der Reisepass-Nummer auf dem Rezept ein Antibiotikum verschrieben hat, war die Apotheke systemisch nicht berechtigt, es ihr zu geben, weil der CNP, weil das Personenkennzeichen wie auf rumänischen Personalausweisen fehlte. „Es gibt in Hermannstadt keine zweite Melissa Jinariu!“, sagte ich der Apothekerin. Leider ist in Rumänien das System wichtiger als der Mensch. Drüben in den USA läuft es umgekehrt, zählt an allererster Stelle das menschliche Wohlergehen. Aber ich war drei Jahre lang nicht mehr hier zuhause in Hermannstadt, und sehe, dass es jetzt eine wirklich europäische Stadt ist.

Besonders unter Europäern, die noch nie über den großen Teich gereist sind, dürften die USA den zweischneidigen Nimbus des Lands der unlimitierten Möglichkeiten haben. Wie einfach oder schwierig bestätigt sich das Klischee?
Mein einziges Gepäck 1999 waren zwei Paar Unterwäsche und 20 US-Dollar in der Hosentasche. Wenn man sich anstrengt, sind die USA wirklich das Land aller Möglichkeiten. Ein Unternehmen zu registrieren erfordert nur zwei Stunden. Auch das Umschwenken ist in Amerika sehr leicht. Ich habe mir Karriere-Zickzack gegönnt und nach der Gitarre ebenso Theologie studiert, 15 Jahre als Pastor gedient, danach die klassischen Sprachen Latein und Altgriechisch studiert, um wiederum als Vollzeitmusiker zu arbeiten und bald ab Herbst an einem Gymnasium Latein zu unterrichten.
Klar, es gibt auch weniger gut Ausbalanciertes. Die Kluft zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Freiheit ist eng mit der Waffen-Erlaubnis in einigen Bundesstaaten verknüpft. Das in Europa gängige Bild der USA dafür unterscheidet sich stark von den USA, in denen ich wohne: die Nachrichten in Europa sind sehr sensationslüstern und überreizt. So brandgefährlich, wie man es in Europa wegen gelegentlicher Schießerei-Kurzmeldungen zu wissen glaubt, sind Schulen in den USA überhaupt nicht. Joe Biden ist kein Dummkopf, und Donald Trump auch nicht. „America first“ mag er können, für die sehr dicht vernetzte Welt aber ist er nicht gut.