Wie Wolodymyr Selenskyi den Propagandakrieg gewann

Ein Kommentar von Veronika Zwing

Der Präsident als Superheld: Ein Online-Handel verkauft dieses T-shirt: Es zeigt ein im Internet kursierendes Meme, für das der Kopf Wolodymyr Selenskyis auf den Körper der Superhelden-Figur „Captain America“ montiert wurde. Captain America selbst wurde 1941 als Propagandafigur im Krieg gegen NS-Deutschland erschaffen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi war im Westen bis vor Kurzem so wenig bekannt wie die Regierungschefs und -chefinnen anderer Länder der Region, vielleicht hatte man gehört, dass dort ein Komödiant die Wahlen gewonnen hatte. Mit Beginn der russischen Invasion hat sich das schlagartig geändert – der Präsident der Ukraine ist inzwischen fast ein popkulturelles Phänomen geworden, er wird als eine Art widerständiger Held im Kampf gegen das Böse dargestellt. Das liegt einerseits natürlich an den Gegebenheiten – das riesige Russland, ein altbekanntes Feindbild des Westens, hat die kleine, demokratische Ukraine völkerrechtswidrig überfallen. Es liegt aber auch daran, dass Selenskyi die ihm zur Verfügung stehende Medienöffentlichkeit spektakulär gut zu nutzen weiß.

Militärexperte Carlo Masala erzählt, dass ihm dieser Krieg wirklich klargemacht habe, was der von Carl von Clausewitz geprägte Begriff „Nebel des Krieges“ bedeute: Wie während eines Krieges die Lage immer ungewiss, Informationen immer unvollständig und vor allem niemals neutral sind, wird uns derzeit täglich vorgeführt.

Auf sozialen, aber auch traditionellen Medien im Westen wird der Eindruck vermittelt, dass der ukrainische Widerstand erfolgreich sei: Ukrainische Traktoren schleppen im Matsch hängengebliebene russische Panzer ab, mutige Bürgerinnen und Bürger stellen sich bewaffneten Soldaten in den Weg, russische Soldaten weinen verzweifelt in die Handykameras. Niemand weiß wirklich, wie erfolgreich der Kampf gegen die Invasoren ist oder ob die russische Armee tatsächlich in einem so erbärmlichen Zustand ist.

Aber es ist für die Ukraine derzeit von großer Bedeutung, dass wir das glauben – denn davon hängt zum Teil ab, wie viel Unterstützung das Land bekommt: Wer liefert Waffen an ein Land, das ohnehin verloren ist? Und so lange die westliche Öffentlichkeit an einen Sieg der tapferen Ukrainer glaubt, ist die Bevölkerung eher bereit, Sanktionen gegen Putin bzw. Russland mitzutragen. Wenn dagegen von einer unabwendbaren Niederlage ausgegangen würde, würden auch Stimmen lauter, dass eine Kapitulation viele Menschenleben retten könnte.

„Sie werden hier keine freie Minute haben“

Wichtiger als Fakten sind im Propagandakrieg Emotionen. Und wer kann Emotionen beim Publikum besser erzeugen als ein erfahrener Schauspieler? Selenskyis Reden sind brillant, findet etwa der Rhetorik-Experte Oliver Walter. Als Beispiel nennt er diesen Auszug aus einer Videobotschaft Selenskyis vom 3. März über die Invasoren: „Sie werden hier keinen Frieden haben. Sie werden hier kein Essen haben. Sie werden hier keine freie Minute haben.“ Parallelismus, Anapher, Epipher und Steigerung erkennt Walter als rhetorische Figuren in diesen wenigen Worten, die Formulierungen erinnerten stark an Winston Churchill. Realiter wird sich die Ansage vielleicht schwer umsetzen lassen, aber um sich auf den Kampf einzuschwören, ist sie höchst effizient: Die Botschaft lautet nicht nur, dass die Ukraine sich nicht ergeben wird, sondern auch, dass jede Bürgerin und jeder Bürger gegen russische Soldaten kämpfen werde.

„Die Antwort hängt von Ihnen ab“

Der russischen Bevölkerung gegenüber zeigt sich Selenskyi dagegen friedfertig und brüderlich. Seine erste Kriegsrede vom 24. Februar ist ein rhetorisches Glanzstück, er wirkt authentisch, seine Worte sind mitreißend. Und er wendet sich darin direkt an die Russinnen und Russen, die Ansprache endet mit den Worten: „‚Meinst du, die Russen wollen Krieg?‘ Ich wünschte mir sehr, ich könnte diese Frage beantworten. Aber die Antwort hängt allein von Ihnen ab, von den Bürgern der Russländischen Föderation.“

Damit spricht er die Bevölkerung Russlands als Souverän des Staates an – nicht Putin, den Präsidenten. Er stellt gar nicht in Frage, dass die Macht rechtens in der Hand der Bevölkerung liegt, über das Schicksal ihres Landes zu entscheiden. Diese direkte Ansprache übt er auch gegenüber der Bevölkerung westlicher Länder – wenn er etwa bei Demonstrationen in Prag oder Frankfurt am Main per Live-Videoschalte sich direkt an Tausende Menschen richtet.

Ikonische Tische

Noch überzeugender wirkt Selenskyis Inszenierung im direkten Vergleich – ein geradezu plakatives Beispiel dafür sind „die Tische“. Bereits vor der Invasion hatte der unverhältnismäßig lange Tisch von Putin Aufmerksamkeit erregt: Die Bilder vom Besuch Emmanuel Macrons, später Olaf Scholz’ beim russischen Amtskollegen zeigten die Politiker gegenüber an einem Tisch sitzend, der einige Meter lang ist und ebenso viel Abstand zwischen Gastgeber und Gast sicherstellt.

Schnell entstanden Karikaturen und Memes dazu – aber eigentlich ist das Original an sich bizarr genug. Oliver Walter erwähnt einen interessanten Aspekt dabei: Es handle sich ja nicht um zufällige Schnappschüsse, sondern vom Kreml angefertigte und für die Presse freigegebene Bilder – ein Weg also, auf dem der Präsident mit der Welt kommuniziert. Und Putin wusste sich immer zu inszenieren: Alle Welt weiß, wie er mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd aussieht, und die Botschaft dieser Bilder haben auch alle verstanden. Aber was mit diesen jüngsten Bildern kommuniziert werden soll, ist unklar – es sieht mehr nach Paranoia denn Machtdemonstration aus.

Selenskyis „Tisch-Bild“ dagegen zeigt den Präsidenten lachend zwischen zwei Soldaten in einem Bunker, auf dem Tisch vor ihnen stehen Schüsseln mit Äpfeln, Wurst und Keksen, getrunken wird aus Plastikbechern. Das Bild strahltWärme und Herzlichkeit aus, es ist die Fotografie gewordene Volksnähe und das Gegenteil von Putins Isoliertheit im prunkvollen, frostigweißen Saal.

Diese Inszenierung Selenskyis als moderner Gegenpol zu Überholtem hat offenbar schon einmal sehr gut funktioniert: Etwa ein Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten im Mai 2019 besprachen Prof. Dr. Gwendolyn Sasse, wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa und internationale Studien (ZoiS) und Marie-Luise Beck vom Zentrum Liberale Moderne (LibMod) in einem Podcast seine bisherige politische Performance. Beide waren sich einig, dass bei neuerlichen Wahlen wohl kaum mehr die damals überraschenden 73 Prozent der Bevölkerung für ihn stimmen würden. Zum Sieg hatte Selenskyi demnach ein recht dünnes Wahlprogramm geführt, vage beschränkt auf das Versprechen, Korruption und Krieg zu beenden. Ersteres ist nicht sehr originell, zweiteres lag kaum in seiner Hand, aber keines davon bietet irgendeine Angriffsfläche.

Seine Wahlkampfinszenierung war vor allem online glänzend, und noch mehr glänzte er im Kontrast zu seinem Gegner: Der Slogan Petro Poroschenkos war „Armee, Sprache, Glauben“ – während Selenskyi bewusst in seinen Reden die Menschen im Donbass und auf der Krim ansprach, und damit im Gegensatz zu Poroschenko die Stimmung in der Bevölkerung widerspiegelte: Denn laut Sasse zeigen Umfragen aus der Zeit, dass seit 2014 eine Verschiebung des Identitätsverständnisses in der Ukraine stattgefunden habe – weg von Ethnie und Sprache, hin zu einem „Ukrainertum“, das sich auf den Staat bezieht. So herausragend wie sein Sieg war Selenskyis Leistung im Amt aber nicht: Noch im Dezember 2021 schrieb „Der Tagesspiegel“ recht vernichtend: „Reformen kommen nicht voran, noch immer grassiert die Korruption. Zweieinhalb Jahre nach seinem Amtsantritt werfen Kritiker Selenskyi vor, zunehmend autoritär und teilweise verfassungswidrig zu agieren.“

Munition, keine Mitfahrgelegenheit

Was die Beendigung des Krieges betrifft – mit bitterer Ironie hat gerade dessen Eskalation dazu geführt, dass Selenskyi der Eintrag in die ukrainische Geschichtsschreibung sicher ist. Der erfolgreiche Schauspieler, der zum enttäuschenden Politiker wurde, avancierte nun in den Augen vieler zum Helden des Widerstands.

Während Putin alleine in seinem Prunksaal sitzt, weit weg von der Front und seinen Soldaten, zeigen verwackelte Handyvideos einen blassen, aber kämpferischen Selenskyi im simplen T-shirt in einem Keller oder auf der Straße, wo er Kadyrows Todesschwadronen trotzt, um zu beweisen, dass er in Kiew ist und nicht plant, die Stadt und ihre Menschen zu verlassen. Seine Antwort auf das amerikanische Angebot zur Evakuierung, wurde zum geflügelten Wort – „Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition“.

Selenskyi riskiert so tatsächlich sein Leben – und das legitimiert, dass er dies auch seinen Mitbürgern abverlangt, wie Oliver Walter betont. Es wird erstaunlich wenig thematisiert, dass das Ausreiseverbot für (mehr oder weniger) erwachsene Männer sie alle zwingt, ihr Leben für den Staat aufs Spiel zu setzen.

Unabhängig von diesen Tatsachen hat Selenskyis öffentliche Inszenierung enorme Mobilisierungskraft – im Inland wie im Ausland. Dass er dabei so erfolgreich ist, liegt aber auch im Wunschdenken Vieler begründet: Wir hätten alle so gerne, dass David Goliath besiegt, dass die Demokratie sich als stärker erweist als der Autoritarismus, dass das Gute über das Böse siegt. Und wir sind sehr bereit etwas zu glauben, dass wir gerne glauben wollen – auch wenn die offensichtlichen Tatsachen dagegen sprechen.