Winterchaosidylle

Foto: Nina May

Nun hatte also auch für die Bukarester, die sich kein Skiwochenende in den Bergen leisten wollen oder können, die unfreiwillige Wintersportsaison begonnen: Ausdauerschneeschippen, Fahrrillengeschicklichkeitsgleiten, Geländewagenschneeschlammrutschen und lustiges Straßenrandhaufenhüpfen für alle! Für das kostenlose Vergnügen bei authentisch sibirischen Importminusgraden mussten wir noch nicht einmal weit laufen. Wir fanden es überall, zentral in der Innenstadt, direkt vor dem Wohnblock, in den Stadtvororten genauso wie in Hinterpfuideifi auf dem Land, auf gesperrten, ungesperrten und von Sperrung bedrohten DNs, uniform und landesweit. Der Winter ist gerecht. Ob Kinder oder Rentner, Putzfrauen oder Börsenmakler, das Katastrophenunwetter kennt keine gesellschaftliche Diskrimination. Vor ihm sind wir alle gleich, genau wie vor dem Herrgott.

Nur wie man mit dem Winter umgeht, ist ganz verschieden. Man kann es so machen wie der ehemalige Premier Boc und vor laufender Kamera schneidig zur Schneeschippe greifen, bei unbedecktem Fast-Glatzkopf freilich ein wenig glaubhaftes Unterfangen. Oder so, wie das im Auto eingeschneite Paar, das alle smurdschen Rettungsversuche ablehnte, weil die Ambulanz sich weigerte, auch das heilig‘ Blechle abzuschleppen. Ihre falsch gesetzte Priorität bezahlten sie mit dem Leben – ein verdammt hoher Preis!

Auch wenn das Holz jetzt wie Butter im Ofen dahinschmilzt und der Wind zwischen den Ziegelsteinen schlecht isolierter Wände durchpfeift, sodass man im Schlafzimmer ein Windrad oder zumindest ein Wetterfähnchen betreiben kann, könnten wir den Winter statt mit Jammern auch einfach als Abenteuer angehen. Die Großeltern erzählten uns noch vom Krieg – wir können den Enkeln dann wenigstens von mannshohen Schneewehen berichten, oder von eisüberzogenen Elektroleitungen, die der Wind leise klirrend aneinanderschlägt, sodass dann und wann ein blaugrüner Funkenregen zischend die Nacht erleuchtet. Von Bäumen, die aussehen, als wären sie in kristallklares Glas gegossen, während sich das Sonnenlicht in den von den Zweigen herabhängenden, in Würstchenform erstarrten Tropfen spiegelt. Von bizarren Eiszapfen, die vom Dach des ebenerdigen Bauernhauses fast bis zum Boden reichen. Oder vom Ansturm der Dorfbewohner im Laden, wo das Brot schon morgens restlos ausverkauft ist. Panik bricht aus, denn ein Rumäne ohne schwammige Weißbrotmasse ist schlimmer dran als ein Tausendfüßler ohne Füße, auch wenn die Speisekammer voller Maisgries und Bohnen ist, oder voller Mehl, zum selber backen.

Die morgendlichen Maxitaxi-Pendler nach Bukarest erscheinen wie Terroristen vermummt an der Haltestelle, die Hosen nass bis zum Knie, weil sich so mancher erst durch Schneewehen zur Straße vorkämpfen musste. Das Auto lässt man jetzt besser unter seiner schützenden Eisschicht Winterschlaf halten. Auf dem Markt gibt’s nur noch erfrorene Äpfel, und in der geheizten Wohnküche balanciert man jetzt zwischen den aufgestapelten Kisten frostempfindlicher Gemüse, gerettet aus Keller und ungeheizten Speisekammern. Der Dorfladen verwandelt sich in eine Kneipe, wo die Männer im dampfigen Halbdunkel mit Bier in der Hand Katastrophenszenarien und Verschwörungstheorien austauschen. Sind die Russen schuld am Wetter? Oder der Băsescu? Ist das Erdmagnetfeld umgekippt und die NASA gibt’s nicht zu? Liegt der Nordpol jetzt in Periş bei Bukarest? Unterdessen schippen ihre energischen Frauen den Gehweg vor den Häusern frei, den zwar sowieso keiner benutzt, weil man lieber mitten auf der Straße latscht. Schneepflug? Splitt? Streusalz? Gibt’s dafür überhaupt ein rumänisches Wort?
Solch spannenden Geschichten werden die Kleinen in ein paar Jahrzehnten mit angehaltenem Atem lauschen, denn bis dahin geht das Meer dank der Erderwärmung sicher bis nach Bukarest. Und dann ade, Winterchaosidylle!