Wort zum Sonntag: Das erhellte Auge

Ein Rabbi fragte einen gläubigen Juden: „Wann weicht die Nacht dem Tag? Woran erkennt man das?“ Der Mann überlegt kurz und antwortete: „Vielleicht, wenn man die erste Morgenröte sieht oder wenn man einen Busch schon von einem Menschen unterscheiden kann.“ „Nein“, sagte der Rabbi, „die Nacht weicht dem Tag, wenn der eine im Gesicht des andern den Bruder und die Schwester erkennt. Solange das nicht der Fall ist, ist die Nacht noch in uns.“ 

Wenn das wahr ist, dass in uns so lange Nacht ist, bis wir im Gesicht der übrigen Menschen den Bruder und die Schwester erkennen, dann sind wir alle, ehrlich gesagt, Nachteulen. Hand aufs Herz: In wie vielen Menschen erkennen wir tatsächlich den Bruder und die Schwester? In nur sehr wenigen. In den übrigen Mitmenschen sehen wir etwas ganz anderes. Wir haben treffliche Bezeichnungen dafür. Wir sehen sie als Quälgeist, Nervensäge, Klatschzunge, Streithahn, Vielfraß, Hamster, Faultier, diebische Elster, schlauen Fuchs und hungrigen Wolf. Wir halten eine ganze Arche Noah von Tiernamen bereit, mit denen wir unsere „lieben Zeitgenossen“ großzügig titulieren und „dekorieren“. Und wenn wir schon das Wort „Bruder“ oder „Schwester“ in den Mund nehmen, dann meistens nur abwertend: Der ist ein „Saufbruder“, die ist eine „Betschwester“. Wir handeln ganz im Gegensatz zu Sem, dem Sohn Noahs, der die Blöße seines betrunkenen Vaters mit einem Mantel barmherzig zudeckte. Den uns unsympathischen Menschen ziehen wir lieber den Spottmantel an, wie die Soldaten des Pilatus es mit Christus gemacht haben.

Das kommt alles davon her, dass unser Auge dunkel ist. Die Eigenliebe und die Einbildung, wir seien bessere Menschen als die übrigen, legen sich wie ein grauer Star auf das geistige Auge unserer Seele. Darum bleibt unser Auge dunkel und wir sehen die Gesichtszüge der Mitmenschen nur verzerrt.

Erst wenn die Gottesliebe das geistige Auge unserer Seele erhellt, weicht das Dunkel und wir lernen unsere Mitmenschen richtig zu sehen. Wir sehen sie nur dann richtig, wenn wir sie so sehen, wie Gott sie sieht. Und er sieht sie mit seinem Sonnenauge doch ganz anders als wir, die mit dem grauen Star behaftet sind. Er erkennt in jedem Menschen, auch im lasterhaften und verkommenen, trotz der Entstellung, noch sein Ebenbild. Darum schlägt Er auch nicht gleich mit Blitz und Donner drein. Er übt mit solchen Menschen – was für uns die schwerste Übung ist – nämlich Geduld. „Gottes Mühlen mahlen langsam“, sagt das Sprichwort.

Menschen, deren Auge durch die Gottesliebe erhellt wurde und die sich selbst den grauen Star der Selbstüberhebung gestochen haben, besitzen einen klareren Blick für ihre Mitmenschen als wir. Bei ihnen ist die Nacht dem Tag gewichen. Sie erkennen auch im unsympathischen Menschen, ja sogar im Übelwollenden den Bruder und die Schwester. Darum handeln sie auch ganz anders als wir.

Der heilige Peter Fourier (+1650) wurde von einer Frau, die eine böse Zunge hatte, in aller Öffentlichkeit schwer beschimpft. Er erfuhr, dass diese Frau in dürftigen Verhältnissen lebte. Heimlich schickte er ihr regelmäßig milde Gaben. Als die Frau nach langer Zeit starb, sagte er bei der Todesnachricht: „Jetzt habe ich leider niemand mehr, der mir die Wahrheit so ehrlich ins Gesicht sagt, wie jene Frau es getan hat.“ Wer von uns bringt so etwas fertig: Den Schmäher als Wahrsager zu betrachten? 

Wessen geistiges Auge durch die Liebe Gottes erhellt ist, sieht im fehlerhaften und auch im feindlich gesinnten Menschen, den durch das Böse verwundeten Mitmenschen, der sich nicht selbst helfen kann. So übt er an ihm Samariterdienste. Er gießt in die Wunden seiner Seele nicht den Essig der Vorwürfe und reibt sie nicht mit dem Pfeffer des Spottes ein. Er sucht sie mit dem Öl der Güte und mit dem Wein der Liebe zu heilen.

Wie sollen wir der Aufforderung Christi nachkommen: „Geh’ und handle geradeso!?“ Wir können nicht alle Krankenschwestern werden, um die körperlichen Wunden der Hilfeheischenden zu pflegen. Auch können wir nicht, wie der Samariter, den am Wege Verwundeten helfen. Wir können aber einander helfen. Gießen wir uns gegenseitig das Öl der Güte und den Wein der Hilfsbereitschaft in die wunden Seelen. Erkennen wir doch mit dem durch die Gottesliebe erhellten Auge in unseren Mitmenschen den Bruder und die Schwester. Dann fällt uns der Samariterdienst aneinander leichter.