Papst Innozenz III. (1198-1216) hat von allen Päpsten die größte weltliche Macht besessen. Sämtliche Gebiete Italiens standen unter seiner Botmäßigkeit. Spanien und Portugal zahlten ihm Zins. Den Bulgaren gab er einen König. Seinem Richterspruch mussten sich, wenn auch widerwillig, die Könige Englands und Frankreichs beugen. Auch in Polen, Ungarn und Dalmatien trat er als Schiedsrichter auf. Er war der Vormund des minderjährigen deutschen Königs Friedrich II., ließ den Gegenkönig Otto absetzen und Friedrich in Aachen zum König krönen. Es gab zu seiner Zeit keinen Mann, der ihm nur annähernd an weltlicher Macht gleich kam. Dazu war er das Oberhaupt der Kirche. So vereinigte er in seiner Person die größte geistliche und weltliche Macht. Er war in seinem Zeitalter in jeder Beziehung der Erste, der Größte.
Eines Nachts hatte er einen Traum, der ihn in die Peterskirche führte. Plötzlich erschütterte ein Erdbeben das Gebäude. Die Mauern wankten und schwankten und drohten einzustürzen. Der Papst stemmte sich mit aller Kraft dagegen, um die Kirche zu stützen. Doch sein Bemühen schien vergebens, die Mauern wankten noch mehr. In höchster Not eilte ein junger Mann, bekleidet mit einer abgetragenen braunen Kutte, dem Papst zu Hilfe. Er berührte die Mauer und sofort ließ das Erdbeben nach, das Wanken der Mauern hörte auf und die Kirche stand wieder fest wie zuvor. Schweißgebadet erwachte der Papst und konnte sich seinen sonderbaren Traum nicht deuten.
Am nächsten Morgen erschien derselbe junge Mönch, den der Papst im Traum gesehen hatte, im Audienzsaal. Er bat demütig den Papst, seinen Orden, den er den „Orden der Minderen Brüder“ nannte, gutzuheißen. Er erklärte auch den Zweck seines Ordens. Die Mitglieder sollten kein irdisches Gut besitzen dürfen und sich den notwendigen Lebensunterhalt nicht verdienen, sondern erbetteln. Ihr Leben sollte so einfach und arm sein wie es das Leben Christi war. Somit allen irdischen Sorgen enthoben, konnten sie unbeschwert und frei wie die Vögel des Himmels, fröhlich die Botschaft Christi verkünden. Der junge Mann war Franz von Assisi. Der Papst approbierte den Orden. Und er tat gut daran. Denn viele Kirchenfürsten, Bischöfe, Äbte und sonstige Würdenträger waren sehr verweltlicht. Wie der Papst in Rom, wollten auch sie in ihrem Umkreis die Ersten und Größten sein, Reichtümer anhäufen und Macht über die Menschen ausüben. Statt Hirten der anvertrauten Herde zu sein, waren sie nur deren Nutznießer geworden.
Viele Gläubige fragten sich: kann das die Kirche Christi sein? Es kam zum massenhaften Abfall von der Kirche. In Norditalien und Südfrankreich breiteten sich die Sekten der Albingenser und Waldenser aus, die von Papst und Bischöfen nichts wissen wollten. Wahrlich, die Kirche wankte. Sie hatte eine tatkräftige Stütze nötig. Diese kam von Franz und seinen Minderen Brüdern zur rechten Zeit. Voll Staunen sah das Volk, wie diese Männer Geld und Reichtum verachteten, sich fröhlich auf den letzten Platz setzten, sich mit den Zukurzgekommenen des Lebens solidarisierten und sie ihre Brüder nannten. Sie wollten nicht zu den Großen gehören, sondern wirklich „mindere“ Brüder sein. Das Volk erkannte bald: um ein guter Christ zu werden, muss man nicht die Kirche verlassen. Das wäre gegen den Willen Christi. Man muss nur innerhalb der Kirche die Botschaft und das Beispiel Christi im eigenen Leben verwirklichen.
Das ist natürlich nicht leicht. Sogar die Apostel hatten einmal miteinander darüber gestritten, wer unter ihnen der Größte sei. Der Meister hatte ein Kind in ihre Mitte gestellt und gesagt: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ Die Lehre ist einfach und klar: nicht wer herrschen will, besitzt den Geist Christi, sondern wer dienen will! Das ist das unveräußerliche Grundgesetz jeder Gemeinschaft, die christlich sein will.
Franz und seine minderen Brüder haben dieses Grundgesetz Christi erkannt und bis zur äußersten Konsequenz erfüllt.Sie entfalteten ein überaus segensreiches Wirken. Der Geist Christi durchwehte die Kirche und erneuerte sie. Der Traum des Papstes erfüllte sich. Nicht der Mächtige stützt die Kirche, sondern der Dienende.
Welches ist nun unsere Aufgabe in der Kirche? Es ist so ähnlich wie im Theater. Dort erhält jeder Schauspieler eine bestimmte Rolle, wie das Stück es vorschreibt. Der eine spielt den König oder den General, den Bischof oder sonst einen hohen Herrn. Aber diese Herren haben auch Untergebene und Diener nötig. So gibt es auch die Rolle des einfachen Mannes und des Dieners. Die Qualität eines Schauspielers hängt nicht davon ab, welche Rolle er spielt, sondern wie er sie spielt. So kann einer, dem die Dienerrolle zugeteilt wurde, sich als größerer Schauspieler erweisen als ein anderer, der die Rolle des hohen Herrn spielt.
Uns alle hat Gott auf die Weltbühne dieses Lebens gestellt. Die einen sind Präsidenten, Generäle, Millionäre, Kardinäle oder sonstige hohe Herren. Dir und mir hat er die Rolle des „kleinen Mannes“oder der einfachen Frau zugeteilt. Sollen wir uns über den Rollenverteiler ärgern? Nein. Schlüpfen wir mutig in die uns von Gott zugeteilte Rolle. Wir wandeln buchstäblich in den Fußstapfen Christi, wenn wir unser Leben als Dienst für Gott und an den Mitmenschen auffassen. Zu dieser Größe hat uns Gott berufen.