WORT ZUM SONNTAG: Der kleine Mensch und der große Gott

Durch die Steppen von Tibet wanderte ein einsamer Mann. In weiter Ferne sieht er vor sich die Höhenzüge des Himalaja mit dem Mount Everest, dem höchsten Berg der Erde. Er hält Daumen und Zeigefinger vor das Auge, um abzumessen, wie klein der Bergriese in dieser Entfernung erscheine. Er meint, ihn zwischen den Fingern zerdrücken zu können. Endlich, nach langem Wandern, steht der Mann am Fuß des gewaltigen Bergriesen. Da ist er von dieser Größe und Wucht so überwältigt, dass er im Gefühl seiner Nichtigkeit auf die Knie sinkt und Gott preist, der solche Werke erschaffen hat.

Mit diesem Tibetwanderer kann man den Menschen vergleichen, der vor dem ewigen Gott steht. Fern von Gott dünkt sich der Mensch groß und stark. Er ist stolz auf sein Wissen und Können. Gott erscheint ihm klein und schwach. Selbst sein Beten, sofern er überhaupt noch betet, hat etwas Gönnerhaftes und er meint, Gott müsse froh sein, wenn man sich zu Ihm noch bekennt. So verkennt der Stolze und Gottferne die Größe Gottes und seine eigene Nichtigkeit, da er sich nicht nur Gott gleichsetzt, sondern sich über Gott erhebt. Auf ihn trifft das Wort des Dichters zu: „Schon mancher, der von Hoffart trunken, hinabstieg in der Weisheit Schacht, ist in den Abgrund tief versunken und in des Irrtums dunkle Nacht!“

Der gläubige Christ gleicht dem Mann am Fuße des Himalaja. Er erkennt die Größe Gottes und seine eigene Nichtigkeit. Freudig und fromm stimmt er in den Gesang der Erzengel in Goethes „Faust“ mit ein: „Der Anblick gibt den Engeln Stärke, da keiner Dich ergründen mag und alle Deine hohen Werke sind herrlich wie am ersten Tag!“ Vom Glauben erleuchtete Wissenschaftler erkennen den gewaltigen Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Tief bewegt rief Ampčre aus: „Wie groß ist Gott und unser Wissen ein Nichts!“ Das unterstreicht Newton, ein Bahnbrecher des Fortschritts: „Ich komme mir vor wie ein Kind, das am Ufer des Meeres spielt und dann und wann einen glatten Kiesel oder eine Muschel, schwerer als gewöhnlich, findet, indem der Ozean der Wahrheit unerforscht vor mir liegt. Was wir wissen, ist ein Tropfen, was wir nicht wissen, ist ein Ozean!“

Unser heutiges Wissen ist weit vorangeschritten. Den Wissenschaftlern ist sogar die Kernspaltung der Atome gelungen. Würde aber jemand von ihnen verlangen, die Atome, die sie gespalten haben, wieder zusammenzusetzen, so würden sie ihn als Narren ansehen. Und doch wurden einmal die Bestandteile aller Atome zusammengesetzt und unvorstellbare Kräfte in sie hineingeschmolzen. Wie weise muss die Vernunft, wie mächtig die Hand dieses Wesen sein, das dies alles in einem gewaltigen Schöpfungsakt vollbracht hat!

General Bertrand fragte einmal Napoleon auf der Insel Sankt Helena: „Was ist Gott? Haben Sie Ihn je gesehen?“ Napoleon antwortete: „Woraus schließen Sie, dass ein Mensch ein Genie ist? Ist das etwas Sichtbares? Wenn auf dem Schlachtfeld ein genialer Einfall und ein schneller Entschluss nötig waren, riefen alle: ´Wo ist der Kaiser?´ Es war der Glaube an mein unsichtbares Genie. Was aber ist der genialste militärische Schachzug gegen die Bewegung der Sterne? Das Universum macht mir Gott sichtbar. Er existiert so sicher, wie ich vor Ihnen stehe. Ich glaube an Ihn!“

Wie lächerlich macht sich der Mensch, wenn er sich mit seiner kleinen Vernunft über Gott erhebt! Das hat der Dichter Julius Sturm (1816 – 1896) in einem Gedicht dargestellt: „Es zog ein Wandrer durch das Land, trug ein Laternlein in der Hand, obwohl vom hellsten Sonnenschein erleuchtet lagen Fels und Stein. Er sprach: „Ich will die Welt besehn und um sie gründlich zu verstehn, betracht ich sie mit ´meinem Licht! Der Sonne droben trau´ ich nicht!’“

Wir kleinen Menschen legen vor dem großen Gott allen Eigendünkel ab. Dem Gebet des Glaubenshelden Dietrich Bonhoeffer (1906 – 1945), der für seine christliche Überzeugung im Hitlerregime sein Leben opfern musste, schließen wir uns an: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag! Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag!“