Wort zum Sonntag: Der Sprung über die Mauer


Im Jahre 1961 errichtete das kommunistische Regime Ostdeutschlands eine Mauer quer durch Berlin. Die Westberliner konnten nach dem Mauerbau ihre Verwandten in Ostberlin nicht mehr besuchen und die Ostberliner nicht mehr in den Westteil der Stadt fahren. Darüber hinaus wurde die Mauer streng bewacht. Mehrere hundert Wagemutige, die den Sprung über die Mauer versuchten, wurden erschossen. Als im Jahre 1989 die rote Diktatur zusammenbrach, fiel sofort auch die verhasste Mauer.

Es mutet uns grotesk an, dass Politiker es fertigbrachten, quer durch eine Millionenstadt eine Mauer zu errichten. Aber handeln wir oft nicht grotesker? Wir bauen zwar keine Mauer quer durch eine Stadt, aber wir errichten Mauern zwischen unseren Herzen und isolieren uns voneinander, wie im folgenden Beispiel: Zwei Männer waren nicht nur Nachbarn, sie waren auch Freunde. Täglich sah man sie zusammen. Wegen einer Lappalie entstand ein Streit und mit dem guten Einvernehmen und mit der Freundschaft war es aus. Von nun an redeten sie nicht mehr miteinander, ja sie grüßten sich nicht einmal, einer war Luft für den andern. Sie hatten zwischen sich eine düstere Mauer errichtet. Oder: Ein Ehepaar lebte glücklich miteinander. Sie hatten geheiratet, weil beide der Überzeugung waren, dass sie nur miteinander glücklich werden könnten. Mit der Zeit stellten sich Probleme und Meinungsverschiedenheiten ein, es kam zu Zank und Streit und schließlich hatten sie zwischen sich eine so feste und hohe Mauer erbaut, die sie nicht mehr wegreißen wollten oder konnten. Der Liebesroman endete vor dem Scheidungsrichter.

Diese Mauern bestehen nicht aus Ziegeln und Beton, sondern aus Neid, Eifersucht, Missgunst, Streitsucht, Hass und Feindschaft. Zieht man zwischen sich und anderen Menschen solch eine Mauer hoch, kann dann Gott in dem ummauerten Herzen wohnen? Kann ein und dasselbe Herz mit Liebe zu Gott erfüllt sein, und zugleich mit Zorn, Rachsucht, Feindschaft und Hass gegen Mitmenschen, die doch auch Kinder Gottes sind? Nein! Licht und Finsternis können nicht zu gleicher Zeit im gleichen Raum sein. Entweder ist es hell oder dunkel. So ist es auch mit unserem Herzen. Der allein vom Naturtrieb beherrschte Mensch handelt nach dem Grundsatz: „Wie du mir, so ich dir!“ Das scheint uns logisch zu sein. Aber diese Haltung eskaliert zur Spirale der Gewalt. Aber Gott handelt anders. Auf unsere Bosheit antwortet er mit Güte, auf unseren Hass mit Liebe, auf unsere Schuld mit Verzeihung. Nur in dieser Weise kann sich das Gute behaupten und verbreiten. Darum handelt der gute Christ nach dem Prinzip: „Wie Gott mir, so ich dir!“

Im 18. Psalm heißt es: „Mit meinem Gott springe ich über Mauern!“ Wer nach dem Prinzip „Wie du mir, so ich dir“ lebt, dem gelingt der Sprung über die Mauer nicht, denn Gott ist nicht mit ihm. Sein Herz ist zu schwach, seine Seele paralysiert. Wer aber nach dem Grundsatz „Wie Gott mir, so ich dir“ handelt, mit dem ist Gott. Sein Herz wird stark, seine Seele beflügelt und es erfüllt sich das Psalmwort: „Mit meinem Gott springe ich über Mauern!“