WORT ZUM SONNTAG: Wahre Stärke

Eine junge Frau erzählte mir kürzlich am Telefon in Stichworten ihr Leben. Als sie sechs Jahre alt war, wechselte ihre Familie den Wohnort. In der neuen Schule wurde sie von den anderen Kindern als „Fremde” angegriffen und ein Lehrer schaute teilnahmslos zu, um ihr nachträglich zu erklären: du musst eben lernen, dich selbst zu verteidigen. Diese und ähnliche Erfahrungen (und die ständig wiederkehrende Erinnerung daran) sind ein dunkler Schatten über ihrem Leben.
„Du Opfer“ – so besiegeln Jugendliche die Ausgrenzung eines Mitschülers, der sich dem Gruppendruck nicht gewachsen zeigt. Ein Opfer verdient kein Mitleid, sondern Verachtung. Wer geachtet werden will, muss Täter sein: er muss bereit sein, psychisch oder auch physisch Gewalt einzusetzen, um sich einen Platz zu erobern. Eine solche Kultur der Gewalt kann viele Formen haben. Sie kann die subtile Gewalt gruppendynamischer Prozesse sein, wenn im Mobbing der Ruf und die Stellung eines Menschen untergraben wird, oder sie kann brachiale körperliche Gewalt in den Ghettos von Großstädten sein, wie sie sich z. B. in England im vergangenen Jahr so unvermittelt Bahn gebrochen hat. In diesem, letztgenannten Fall ist die Gewaltanwendung immer auch Ausdruck von lange andauernden Erfahrungen von Ohnmacht und Ausgrenzung ganzer Gruppen.

Erfahrungen von Ohnmacht und Schwäche scheinen also nur zerstörerisch zu sein: entweder sind sie eine schwere psychische Hypothek für das ganze Leben, oder sie äußern sich explosiv nach außen. Provokativ und schwer verständlich klingt darum die Äußerung des Apostels Paulus: „Ich freue mich über alle Schwachheit“, „Ich will mich nur meiner Schwachheit rühmen“ (2 Korinther 12,5.10). Geht das denn? Ist das mehr als nur eine rhetorische Stilfigur, in der Paulus die Argumentation seiner Gegner umdrehen will? Der Apostel war ja gewiss kein Schwächling, wenn man an das Werk denkt, dessen Instrument er war. An eben jener Stelle im Korintherbrief, an der er zum Lob der Schwachheit anhebt, erzählt er auch von prägenden göttlichen Offenbarungen („ins Paradies entrückt“, 2 Kor 12,4), die für ihn zur Quelle von Kraft und Weisheit geworden waren. Dennoch, und gerade mitten darin, will er den Blick von seiner Person ablenken und betont: all das zählt nichts, es zählt nur, dass „die Kraft Christi bei mir Wohnung nehme“ (2 Kor 12,9).

Paulus will uns keine Illusionen vermitteln. Stärker noch: er ist Realist. Er hat Einsicht darin erhalten, wie oberflächlich und vergänglich menschliche Ausdrucksformen von Macht und Gewalt sind. Es ist ein Teufelskreis, in der einzelne Menschen und Gruppen regelrecht gefangen sind. Die ständige Angst um Machtverlust, die ständige Absicherung und Betonung eigener Bedeutung macht nicht frei, sondern unglücklich – andere und auch sich selbst. Aus diesem Teufelskreis kommt aber nur heraus, wer jenseits der menschlichen Beziehungsnetze eine Verankerung hat, die ihm nicht genommen werden kann. Diese Verankerung ist Christus, ist der Glaube an ihn. Der Satz „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ (2 Kor 12,10) ist nur in diesem Licht mehr als ein Paradox, mehr als eine leere Trostformel. Ganz im Gegenteil: wo ein Mensch seine innere Sicherheit in einem transzendenten Gut findet, da wird er fähig, sich selber den Machtspielen in den menschlichen Beziehungen zu entziehen und sogar zu jemandem zu werden, von dem das Werk der Versöhnung ausgeht, weil er die Spirale der Gewalt erkennt und durchbricht. Es ist das Gegenteil von ängstlicher Unterwürfigkeit, es ist die Erfahrung einer Befreiung, die unsere Welt (im Kleinen und im Großen) so dringend nötig hat.