Zehn Jahre im Dienste der siebenbürgischen Archive

Gespräch mit Thomas Şindilariu, Leiter des Archivs der Honterusgemeinde, Kronstadt

Thomas Şindilariu leitet in Kronstadt das Archiv der Honterusgemeinde.
Foto: Hans Butmaloiu

Seit zehn Jahren steht der aus Siebenbürgen stammende, später nach Deutschland ausgewanderte und wieder zurückgekehrte Historiker Thomas Şindilariu im Dienste der siebenbürgischen Archive. Wie es dazu kam, was ihn an der Siebenbürgischen Geschichte bis heute so fasziniert und woran er aktuell forscht, verrät der Kronstädter im Gespräch mit ADZ-Redakteur Hans Butmaloiu.


Kurz und bündig – wer ist Thomas Şindilariu?

Am 22. Juli 1974 in Kronstadt/Braşov geboren, habe ich eine „mexikanische” Jugend hinter mir, welche mit der Konfirmation endete. Die Jahre bis dahin verbrachte ich also in Kronstadt, im Stadtteil Bartholomae, der 1863 zeitgleich mit den Freiheitskriegen in Mexiko seine kirchliche Unabhängigkeit von der Inneren Stadt erlangte und das mit dem Spitznamen „Mexiko“ bezahlen musste.

Da meine Mutter am Honterus-Lyzeum unterrichtete, war diese Zeit ein Hin und Her zwischen den Schulen, die erste und zweite Klasse in der Zwölfer Allgemeinschule, dann die dritte bis siebente Klasse im Honterus. Es waren die Jahre, als viele die Papiere für die Auswanderung nach Deutschland einreichten. Dann kam die achte Klasse, an deren Ende eine erste schwere Prüfung wartete und da unsere Klassenlehrerin „eingereicht“ hatte, wurde unsere Klasse auf die anderen beiden Parallelklassen aufgeteilt. Zwei Riesenklassen waren entstanden, dazu noch Nachmittagsunterricht, für mich hieß das, wieder ab in die Zwölfer Schule. Ein Jahr Zwölfer, dann neunte Klasse Honterus und 1990 Auswanderung.

Und was folgte?

Nun, es galt, ein neues Umfeld kennenzulernen. Dazu gehörte alles Mögliche, Einfaches und Schwieriges. Das Bild, das wir uns von Deutschland in Siebenbürgen gemacht hatten, war gelinde gesagt, nur teilweise realitätsnah. Die Bundesbürger tickten und ticken doch erheblich anders, als man das von zu Hause gewohnt war. Viele Erfahrungen möchte ich dennoch ganz und gar nicht missen. Die Erfahrung, dass Arbeit zur Problemlösung führt, war – so banal es klingen mag – eine der wichtigsten, vor allem da die gesamte organisatorische Seite der Arbeit auf Effizienz getrimmt war und nicht auf das Absitzen eines bestimmten Stundensolls. Dem Abitur folgte der Zivildienst im Bereich der häuslichen Seniorenpflege, das Studium konnte nahtlos aufgenommen werden.

Also gab es schon frühzeitig eine Entscheidung zum Studium, doch wie kam es zu dem Fach Geschichte?

Ja, das Studium stand außer Frage. Geschichte auf jeden Fall, mit Blick auf einen Broterwerb kam die erste Fächerkombination mit Deutsch als zweitem Hauptfach zustande. Ich wollte also Gymnasiallehrer werden. Was ich kannte, war das Lehrerdasein meiner Eltern, hier in Kronstadt - und das war entschieden anders als das, was ich in Deutschland im Rahmen der studienbegleitenden Praktika kennenlernte.

Meine Eltern sind Sportlehrer, von ihnen wusste ich, was Lehrer sein am Honterus bedeutet: Skilager, Ausflüge und dergleichen, viele Aktivitäten neben dem schlichten Unterricht. Die Beziehung Schüler-Lehrer in Deutschland sagte mir weniger zu als das, was ich aus Kronstadt kannte. Hinzu kam, dass es mich faszinierte, historische Fragen und Vorgänge möglichst vollständig zu erforschen.

Dieser Neigung hätte ich als Gymnasiallehrer schwerlich nachgehen können. Da man die für das Lehramtsstudium vorgeschriebenen Scheine auch teilweise am Lehrstuhl für Ost- und Südosteuropäische Geschichte erwerben konnte, hatte ich das Themenfeld, das meiner Neugierde gerecht wurde, hier schnell gefunden. Es muss dazugesagt werden, dass die LMU München damals eine sehr gut ausgebaute Abteilung für Osteuropa im Rahmen der historischen Fakultät hatte: vier Professoren, wenige, aber sehr gute Assistenten und eine überschaubare Studentenanzahl.

Hinzu kam, dass die Bayerische Staatsbibliothek einen besonderen Sammelauftrag zu Osteuropa hatte und es damals eine Reihe von außeruniversitären Forschungsinstituten gab – darunter das Ungarische Institut, das Südost-Institut und das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, alle besonders wichtig für meine Interessen. München war damals – mehr als heute -– ein Mekka der Osteuropakunde.

Gab es einen besonderen Grund dafür?

Sogar einen sehr guten: der Kalte Krieg und seine Nachwirkungen. Osteuropawissenschaften wurden ab den 1960er Jahren in der ganzen Bundesrepublik stark gefördert, aus dem einfachen Grund, da der Westen Experten brauchte, die über den sich abschottenden Osten Bescheid wussten. Letzten Endes ging es damals auch um Politikberatung.

War Politikberatung das Ziel Ihres Interesses an Osteuropa?

Nein, das war Ende der 1990er Jahre nicht mehr so aktuell, man hatte bereits allerorten begonnen, die osteuropabezogene Forschungslandschaft zu reduzieren, da diese ihr Ziel mit der EU-Osterweiterung erreicht zu haben schien.

Wenn man Wissenschaft als primär zweckfrei versteht, wenn es also in erster Linie um Grundlagenforschung geht, dann wird schnell offensichtlich, welch unkluges Spiel man mit der Reduzierungspolitik zu spielen begann – ganz abgesehen davon, dass es in einem Staatenbund wie der Europäischen Union doch wichtig sein sollte, seine Nachbarn möglichst gut zu kennen.

Osteuropa ist ein Raum, der mitunter sehr viel komplexer strukturiert ist als der westliche Teil des Kontinents. Umso faszinierender ist sein Studium, das sich im Übrigen im universitären Betrieb durch nichts von den anderen Disziplinen unterschied: Vorlesungen, Seminare etc. Allein die angebotenen Inhalte schienen mir interessanter. In einem Seminar wurde zum Beispiel der grundlegende Prozess der Christianisierung Osteuropas behandelt.

Eine Veranstaltung, die sich hervorragend eignete, um „Blut zu lecken“. Im ostmitteleuropäischen Raum trafen ja das byzantinische und das abendländische Christentum aufeinander. Geht man dann der Frage der Christianisierung der Rumänen oder der Ungarn nach, dann wird es richtig spannend, freilich auch, weil die Quellen äußerst spärlich sind.

Wie wurde aus diesem Interesse ein Beruf?

Zunächst vor allem durch inhaltliche Eingrenzung. Man kann nicht in alle Materien, die interessant sind, gleich tief eindringen. Ich lernte die in Europa einzigartige Geschichte Siebenbürgens näher kennen und blieb dann dabei. Das ging über Seminare an der Uni und am Ungarischen Institut, über die Veranstaltungen von Studium Transylvanicum und über wissenschaftliche Kontakte, aus denen Freundschaften wurden.

Zu erwähnen sind da etwa die Leiter des Ungarischen Instituts und des Siebenbürgen-Instituts, Dr. Zsolt K. Lengyel und Dr. Harald Roth, sowie mein Schulfreund Dr. Gerald Volkmer. An das erste Seminar von Studium Transylvanicum, an dem ich teilnahm, kann ich mich noch gut erinnern – November 1996 in Grassellenbach im Odenwald. Es ging um politische Strukturen und Konzeptionen der Siebenbürger Sachsen, auch Wolfgang Wittstock war damals unter den Referenten, Dr. Ulrich A. Wien und etliche andere. Die Anreise aus München, gemeinsam mit Petra Schaser und Christian Agnethler, war endlos, aber voller interessanter Gespräche.

Wenn man sich für ein so exotisches Studium entscheidet, wird man freilich auch gefragt, ob man denn vor habe, das Heer der akademischen Taxifahrer zu verstärken. Ein Großteil der Studenten in Deutschland finanziert sich das Studium weitgehend selbst, das war bei mir nicht anders. Taxifahren gehörte nicht dazu, statt dessen Jobs auf Baustellen, in der Gastronomie oder in der Jugendbetreuung. Nebentätigkeiten am Ungarn-Institut und am Lehrstuhl gehörten dann schon zu den schöneren Stellen, die ich mir erarbeiten konnte. Es war nicht immer leicht, Studium und Job in Einklang zu bringen, aber als Belastungstest und Vorbereitung für das spätere Berufsleben war das eine sehr nützliche Erfahrung, die hierzulande noch viel zu wenig Verbreitung gefunden hat.

2002-2003 arbeitete ich am Friedrich-Teutsch-Haus mit, als es um die Erschließung zahlreicher Gemeindearchive ging. Das war mein erster Vollzeitjob. Als das Projekt auslief, hatte ich bereits den nahtlosen Übergang nach Kronstadt organisiert, wo ich im Rahmen der Honterusgemeinde eine wahre Herausforderung gefunden hatte: ein schlafendes, von der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend vergessenes, aber dafür inhaltlich umso aufregenderes Archiv.

Es gelang mir, die Gemeinde, Freunde und Partner für dieses Anliegen zu gewinnen und etwas daraus zu machen. Wir sind zum Beispiel das einzige Archiv in ganz Rumänien, das seine gesamten Inventare online recherchierbar gemacht hat (www.honterus-archiv.ro). Insgesamt bin ich sehr dankbar, wenn ich auf die letzten zehn Jahre in Siebenbürgen zurückblicke. Freilich gibt es auch Sorgen.

Die Evangelische Kirche in Rumänien hat eine im Vergleich zu anderen Kirchen sehr reichhaltige archivarische Überlieferung. Diese verwaltet sie nur zum Teil selbst, da große Bestandsbereiche an staatliche Archive enteignet wurden. Etliche Bezirks- und Gemeindearchive sind vor Ort gelagert – das ist kein grundsätzlicher Schaden, aber eine fachliche Betreuung durch Archivare kann ganz andere Qualitätsstandards anbieten. Eigentumsrechtliche Sicherheit muss geschaffen werden, die Archivlandschaft muss weiter strukturiert werden.

Überschaut man die Lage, so wird als erstes deutlich, dass wir an einem ausgeprägten Mangel an Fachleuten im Archivbereich leiden. Ein Mehr an Willen und Bereitschaft, vor allem in entsprechend ausgebildete Kräfte zu investieren, würde sich in der Festigung der kirchlichen und minderheitlichen Identität mehr als bezahlt machen, zumal das Fragen nach Kontinuitäten, ihre An- und Wiederaufnahme in Phasen des Umbruches, wie wir sie gegenwärtig erleben, besonders dringlich ist.

Wo liegt heute der Interessenmittelpunkt von Thomas Şindilariu? Ist es ein ganz bestimmter Geschichtsabschnitt, eine Region?

Grundsätzlich bleibt es beim Großzusammenhang Siebenbürgen unter besonderer Berücksichtigung Kronstadts und des Burzenlandes. So sind etwa im Archiv der Honterusgemeinde rund 15 Vorhaben für die Fortführung der „Quellen zur Geschichte Kronstadts“ erarbeitet worden und teils schon in Ausführung befindlich. An solche Vorhaben wagt man sich freilich besser nicht alleine heran, sondern ergänzt sich gegenseitig mit anderen.

Mit Gernot Nussbächer und Elisabeta Marin habe ich im Archiv der Honterusgemeinde derzeit zwei sehr erfahrene ehemalige Angestellte des Kronstädter Staatsarchiv als Kollegen, mit denen man etliches bewegen kann. Hinzu kommen internationale Kooperationspartner. Junge Kräfte vor Ort, mit denen man sich Gedanken machen kann über die Vorhaben in zwanzig oder dreißig Jahren – das wäre ein Idealzustand, von dem man jedoch einstweilen nur träumen kann.

Im Rahmen meiner Magisterarbeit ging es um die Zeit der Aufklärung in Siebenbürgen. Genauer um das Wirken der Freimaurer in Siebenbürgen in Gesellschaft, Kultur und Politik. Insbesondere was die konzeptionellen Anfänge landeskundlicher Erforschung als Gemeinschaftsaufgabe anbelangt, konnte ich einiges (wieder)entdecken. Die Arbeit erschien 2011 als Buch.

Und woran arbeiten Sie jetzt?

Grundsätzlich wird sehr viel gesammelt, besonders als digitale Kopien. Derzeit geht es besonders um die Aufarbeitung der jüngeren Geschichte der Honterusgemeinde. Ein schwieriges Erbe, vor allem wenn man die Hinterlassenschaft der Securitate zur Hand nimmt. Nur durch Kenntnis des Vergangenen, nur durch Erkenntnis der Prägekraft des Vergangenen bis auf den heutigen Tag, kann man sich einen klaren Blick auf Gegenwart und Zukunft erarbeiten, und daraus Mut und Selbstvertrauen schöpfen.

Vielen Dank für Ihre interessanten Ausführungen!