Zeitzeugen schwarz auf weiß

Ausstellung im Athenäum: CNSAS-Dokumente zur Russlanddeportation

Die Ausstellung stieß auf großes Interesse.
Foto: George Dumitriu

Zum 71. Mal jährte sich im Januar die Deportation der Rumäniendeutschen in die ehemalige UdSSR – ein immer noch traumatisches Thema. Dennoch finden kurz vor dem Erlöschen der Erlebnisgeneration immer mehr Zeitzeugen den Mut, ihr jahrzehntelanges Schweigen zu brechen. Ihre Erinnerungsbücher füllen Erkenntnislücken und verdichten das historische Puzzlebild zu einer einheitlichen Wahrheit. Die Verarbeitung dieses tragischen Schicksals jedoch ist individuell verschieden. Deswegen muss auch in der Erinnerungskultur jeder einzelne Fall gewürdigt werden, betont der deutsche Botschafter Werner Hans Lauk bei der Eröffnung der Ausstellung „Hinter dem Stacheldraht“ („Cu faţa, în spatele sârmei ghimpate“) am 27. Januar im Bukarester Athenäum. Passend zum Datum – der 27. Januar ist in Deutschland auch Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus – zitiert er die Worte von Altbundespräsident Roman Herzog 1996 zum Anlass dessen erstmaliger Begehung: „Die Erinnerung darf nicht enden, sie muss auch zukünftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen!“

Im Mittelpunkt der Ausstellung, bei deren Eröffnung außer dem Botschafter Andrei Dimitriu, Direktor der Philharmonie „George Enescu“, als „Gastgeber“ Dragoş Petrescu, Vorsitzender des CNSAS, Sven-Joachim Irmer, Leiter der Konrad Adenauer Stiftung Rumänien, und Dr. Klaus Fabritius, Vorsitzender des Altreichforums, sprachen, stehen auf 12 Paneelen ausgewählte Dokumente und Fotos: Verträge, Amtskorrespondenz, Listen, Briefe, Zeitungsartikel und Statistiken aus dem Fundus des Nationalen Rates für das Studium der Securitate-Archive (CNSAS) und des Nationalen Zentralarchivs. Unerschütterliche Zeitzeugen, schwarz auf weiß gedruckt, zusammengetragen und ausgewählt vom CNSAS mit Unterstützung der Konrad Adenauer Stiftung. Sie machen das Unfassbare fassbar: Wie es dazu kommen konnte, dass Menschen allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit bestraft wurden. Für Betroffene und deren Angehörige sind längst noch nicht alle Fragen geklärt: Warum wurden auch Frauen deportiert? Welche Rolle spielte der rumänische Staat? Auf welcher Basis wurden die Listen zur Deportation erstellt? Wie kam es zu den zahlreichen Regelverletzungen bei der Aushebung? Zur Klärung fand im Anschluss an die Vernissage eine wissenschaftliche Konferenz statt, auf der auch Historiker, Experten des CNSAS und des Nationalen Zentralarchivs vortrugen.

Wohldokumentierte Etappen

Die Ausstellung beginnt mit dem Waffenstillstandsvertrag von 1944 und den bald darauf erfolgten Vorbereitungen der Aushebung: Zwar wurde die Operation geheimgehalten, doch hatte es vereinzelte Gerüchte im Vorfeld gegeben. Aus dem Archiv des Zentrums für erzählte Geschichte des  CNSAS hier ein Auszug aus einem Interview mit Ignaz Bernhard Fischer, Vorsitzender des Deportiertenvereins: „Wir standen in einem Bahnhof vor Temeswar, wo der Zug wartete. Neben diesem hielt ein anderer Zug. Wir schauten rüber und hörten, dass Deutsch gesprochen wurde. Der Waggon war offen, es waren Frauen und Männer. Ich habe sie gefragt: ‚Wer seid ihr?‘ ‚Wir sind aus Jugoslawien.‘ ‚Aber, wohin bringt man euch?‘ ‚Nach Russland‘, antworteten sie.“ Es war bekannt, dass Listen aller Deutschen erstellt worden waren. Gerüchte über die Deportation wurden dennoch nicht ernst genommen. Die ersten Transporte aus Rumänien gingen am 2.-3. Januar 1945 aus Sathmar/Satu Mare ab. Am 8.-10. wurde massiv in Bukarest, Hermannstadt/Sibiu, Kronstadt/Braşov und Temeswar/Timişoara ausgehoben. Der letzte Zug verließ das Land am 27. Januar, erzählt Dr. Klaus Fabritius, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen im Altreich. Ziele waren für die meisten die Kohlenminen im Donbass (heute Ukraine), seltener die Goldminen im Ural oder Einsätze zur schweren Waldarbeit und zum Wiederaufbau des russischen Eisenbahnnetzes.

Unter den Deportierten war der Frauenanteil wesentlich höher, was sich damit erklärt, dass etwa 70.000 Männer zwischen 18 und 35 Jahren zur Zeit der Aushebung noch an der Front waren. Obwohl es strikte Regeln gab – deportiert werden sollten Männer zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 35 – und natürlich Ausnahmen –,  befreit waren Pfarrer, Mönche und Nonnen, Schwangere und Mütter von Kindern unter einem Jahr sowie für die Industrie unentbehrliche Fachleute – wurden diese vielfach gebrochen. In der Ausstellung wird der Befehl zur Anreise zu den Sammelstellen sowie eine Liste der mitzubringenden Dinge gezeigt: Kleidungsstücke und Utensilien, unter anderem Verpflegung für 15 Tage, alles in allem nicht mehr als 200 Kilogramm. Theoretisch.

Missbräuche

Massive Missbräuche begannen, als sich die russische Seite mit der übermittelten Anzahl der zu Deportierenden unzufrieden zeigte. Zwar hatte man die rumänischen Behörden mit der Erstellung von Listen beauftragt, in der Hinterhand gab es jedoch eigene russische Listen, die von den rumänischen stark abwichen. Um auf die eingeforderte Personenzahl zu kommen, wurden  Altersgrenzen missachtet oder Eltern statt ihrer Kinder deportiert, wenn diese unauffindbar waren. Schwangere Frauen oder Kranke, zuvor von einer Ärztekommission befreit, aber auch Rumänen oder Ungarn mit deutsch klingenden oder sogar rein rumänischen Namen wurden einfach mitgenommen. Hauptsache, die Zahl stimmte! In Kronstadt wurden Dokumente mit Tabellen gefunden, die die Entsendung von 12 Männern über 45 bis zu 48 Jahren, sowie 12 Jungen unter 17 Jahren und sechs Mädchen unter 18 attestieren. In Hermannstadt wurden 26 Männer und 58 Frauen im falschen Alter mitgenommen. Ähnliche Dokumente gibt es zu Lugosch, Deva, Temeswar, Zărneşti etc. Ein Dokument zeigt, dass von 250 Mitarbeitern einer Siemens-Vertretung 39 deportiert wurden, obwohl ihnen Unentbehrlichkeit attestiert worden war. Auch Rumänen oder Ungarn, die kein Wort Deutsch konnten, wurden deportiert. Manche hat man anstelle eines auf der Liste geführten Deutschen mitgenommen, der unauffindbar war. In Kronstadt wurden 13 Männer und 13 Frauen ganz ohne Akten zur Deportation geführt. Insgesamt hat man aus Rumänien 1632 Menschen anderer Ethnien deportiert! Darunter auch Juden, die per se ausgenommen waren...

Anfangs hieß es als Argument, es werde noch eine Ausmusterung im Sammellager stattfinden. Doch dazu kam es nicht mehr. Wer einmal dort gelandet war, für den gab es meist kein Entrinnen. Fälle, in denen Frauen trotz fortgeschrittener Schwangerschaft ausgehoben wurden, sind bekannt. Ihre Kinder wurden im Zug geboren. Fabritius berichtet von einer Frau, in deren Geburtsurkunde nur „UdSSR“ steht, weil der Geburtsort nicht zu eruieren war. Häufigster Missbrauch war der Verstoß gegen die vorgeschriebene Utensilienliste – die meisten hatten gar keine Gelegenheit, ausreichend zu packen. Manchmal blieb nicht einmal Zeit, zurückbleibende Kinder in Obhut zu geben. Deutschstämmige Soldaten, die in der rumänischen Armee dienten, wurden auf der Straße aufgegriffen, in Uniform und ganz ohne Sachen verladen. Fatal, denn mangelnde Ausrüstung war in den Arbeitslagern häufig Ursache von schweren Arbeitsunfällen.

Traumatische Rückkehr

Besonders wurde auf die Situation der Rückkehrer eingegangen: Die Rückkehr erfolgte ab 1949, der letzte Transport fand 1953 statt. Krankentransporte gingen automatisch nach Deutschland, weil es in Frankfurt an der Oder ein Militärspital gab. Eine Rückkehr in die Heimat war nicht für alle selbstverständlich. Die mit dem Zug nach Sighet gelangten Rückkehrer wurden gefragt, ob sie nach Hause oder nach Deutschland wollten. Viele Transporte gingen jedoch automatisch nach Deutschland. Von dort aus war eine Rückkehr nach Rumänien offiziell verboten! Familien wurden auseinandergerissen, wenn der Mann von der Front nach Rumänien zurückkehrte und die Frau nach der Deportation nach Deutschland gebracht wurde. Oder wenn beide Eltern in Deutschland landeten und ihre Kinder in Rumänien warteten. 1950 erlaubten Bukarester Behörden erstmals einer Gruppe ethnisch Deutscher die Ausreise. Nach 1952 gab es keine solchen Transporte mehr. Anträge wurden abgelehnt oder versandeten. In Rumänien hingegen verursachten in den 50er Jahren immer wieder Gerüchte zu einer erneuten Deportation Panik unter den Deutschen.

Die Schuldfrage

Lange Zeit war die deutsche Minderheit davon ausgegangen, Russland hätte von Rumänien nur Arbeitskräfte zum Wiederaufbau gefordert – und die Rumänen hätten leichtherzig die Deutschen geopfert. Für viele Aussiedler nach Deutschland war dies sogar das Argument gewesen: Weg aus dem Land, wo man uns das angetan hat! Längst ist jedoch erwiesen, dass Russland gezielt die Auslieferung der deutschen Minderheit gefordert hatte. Schriftlich festgehalten ist eine „Entwaffnung und Internierung der Deutschen in Rumänien“ im Anhang zu Artikel 2 des Waffenstillstandsvertrags – allerdings ist dort von deutschen Staatsbürgern (citizens) auf rumänischem Boden die Rede. Am 16. Dezember 1944 unterzeichnete Stalin dann Dekret Nr. 7161, in dem die Deportation der ethnisch deutschen Minderheit aus den besetzten Ländern – Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien – in die Sowjetunion festgelegt wird. Vergeblich hatte sich die rumänische Seite bemüht, Frauen von der Deportation ausnehmen zu lassen und die untere Altersgrenze für Männer zu erhöhen.

Vergeblich auch die Proteste aus dem In- und Ausland. Am 10. Januar übersandte die britische Botschaft eine diplomatische Protestnote der Regierung, adressiert an V. H. Molotow. In einem Protestbrief der US-Regierung, über Armeevertreter General C. V. R. Schuyler am 12. Januar 1945, an General Wladislaw Winogradow gerichtet, steht: Von Deportationen nach Russland sei im Waffenstillstandsvertrag nicht die Rede gewesen, man verlange deren sofortige Aussetzung. Am 9. Januar schrieb Dinu Brătianu einen Protestbrief an den rumänischen Premierminister. Am 13. Januar werden die Proteste der rumänischen Regierung an Winogradow weitergeleitet. Vergeblich. Geschichte ist nicht zu heilen. Doch Aufklärung ist zumindest ein Balsam, der so manche Wunde lindert.