Hat man den 25. November 2024 in Rumänien erlebt, kann man sich gut vorstellen, wie Dornröschen sich gefühlt haben muss, als sie aufwachte. Nach einem langen tiefen Schlaf öffnet sie die Augen und sieht einen fremden Mann, der sie gerade geküsst hatte. Călin Georgescu, der Prinz, hatte sich in der Riege der Prinzen, die sich bemüht hatten, sie aus dem Dornengeflecht zu befreien, eher im Hintergrund gehalten. Nur ab und an kam er in den Vordergrund mit so mancher Idee, die den anderen die Haare zu Bergen stehen ließen. Seine Ergüsse über die Geschichte des Königsreichs hatten sogar so weit geführt, dass seine eigenen Mitstreiter ihn als zu radikal hatten fallen lassen. Doch hatte ihm das nichts ausgemacht. Er schien weiterhin allen so unwahrscheinlich und unwichtig, dass ihm niemand auch nur einen Moment Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Und das passte ihm. Er brauchte für den geplanten Weg niemanden an seiner Seite. Denn so alleine, wie alle dachten, war Prinz Georgescu nicht. An seiner Seite, gut im Schatten verborgen, stand ihm ein großer Bruder zur Seite. Ein großer Bruder, der wusste, wie und was zu tun ist, um sich die Hand der schlafenden Prinzessin zu sichern. Nachdem dann alle ihr Glück versucht hatten und sich sicher waren, dass sie bei einem zweiten Anlauf das Dickicht durchbrechen werden und die Prinzessin im Triumphzug wegführen würden, nahm auch Georgescu Anlauf. Im Vorfeld, unbemerkt, hatte er mit den modernsten ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die ihm der große Bruder ermöglicht und finanziert hatte, sein Schwert geschärft.
Während seine Kontrahenten sich herumplagten und mit den klassischen Gartenscheren das Dickicht zu durchbrechen suchten, schlug unser Prinz durch das ihm zur Verfügung stehende moderne, scharfe Werkzeug, mit welchem ihn der große Bruder ausgestattet hatte, abseits von allen Blicken seinen Weg zum Schlafzimmer der Prinzessin frei. Dafür brauchte er, anders als alle anderen, keinen Zentralsitz – seine Wohnung reichte ihm aus – um Strategien und Pläne zu schmieden, keine großen Plakate, die seine Heldentaten verherrlichten, keine Chöre, die seinen Mut in Lobliedern besangen. Mit Gott im Herzen und auf den Lippen, mit unverblümtem ungebrochenem Vertrauen zum großen Bruder, kam er Schritt für Schritt dem Schlafzimmer, in welchem ihm die Prinzessin und das Königreich als Preis zuwinkten, näher. Und als er dann da stand, verstanden die anderen die Welt nicht mehr. Mit hängender Kinnlade fragten sich alle, wie er das vollbracht hatte. Kein Zeichen hatte darauf hingedeutet. Kein Szenario, von denen man sich mit viel Geld mehrere hatte aufstellen lassen, hatte mit ihm am Bett der schlafenden Prinzessin gerechnet. Und trotzdem stand er da. Die in Schlachten geübten anderen Ritter fanden sich in der Schneeglöckchen-Stellung wieder und suchten nach Löchern, in denen sie sich verkriechen konnten.
Jetzt steht er da – und muss nur noch der schlaftrunkenen Prinzessin den erweckenden Kuss geben, sie aufs Pferd heben und sich die Krone des Reiches aufsetzen. So weit ist es aber noch nicht. Das Märchen von Prinz Călin Georgescu und der Prinzessin ist noch nicht zu Ende geschrieben.
Eine Ritterin, zugegeben nicht die beste, tapferste und fähigste, steht ihm noch im Weg. Sie könnte, wenn das im Schloss schlafwandelnde Volk die Hand anlegt und ihr zur Seite steht, das Rennen um den erlösenden Kuss doch noch gewinnen. Wenn das Volk seine Prinzessin für sich behalten will. Wenn das Volk Georgescu die Prinzessin schenken will, kann man auch nichts dagegen tun. Man wird auf dem Hochzeitsball zu den Klängen der Balalaika das Tanzbein mitschwingen müssen.
Bis dahin gehe ich auf den Dachboden und suche die Russisch-Lehrbücher meiner Vorfahren heraus. Es könnte gut sein, dass ich in Kürze Dornröschen in der Sprache des Kremls lesen muss.