Zwischen Erinnerung und Realität oder vom Zerfall eines Bildungsideals

Einige Bemerkungen am Rande eines Temeswarer Schulskandals

Foto: Zoltan Pazmany

Ein Bekenntnis zuallererst: Ich habe die Temeswarer Nikolaus-Lenau-Schule besucht, von der ersten bis zur zwölften Klasse. Von der Grundschule bis zum Abitur. Zwischen 1990 und 2002 – meine Generation war die erste, die in Freiheit und Demokratie zur Schule ging, in deren Lehrbücher keine Ceaușescu-Porträts mehr zu finden waren und die das Glück hatte, keine Pionierskrawatte und keine Schuluniform tragen zu müssen. 1990 war der berühmte Erich Pfaff noch Direktor der Lenau-Schule, ab 1992 stand die Deutschlehrerin Viktoria Șuvăgău an der Spitze des Lyzeums, 1998 wurde der Mathematiklehrer und heutige DFDR-Abgeordnete Ovidiu Ganț Direktor, drei Jahre später der Geschichtslehrer Ludwig Holczinger. 2002, als ich das Abitur ablegte, regierte Adrian Năstase das Land mit eiserner Hand, die EU hatte gerade die Visumspflicht aufgehoben, die Wirtschaft begann langsam, die Misere der 90er Jahre zu überwinden, Rumänien verhandelte mit Brüssel über den Beitritt und von den genau 70 Absolventen meines Jahrgangs gingen zehn nach Deutschland, um dort zu studieren. Später folgten viele weitere.

Heute leben Pfaff, Șuvăgău und Holczinger nicht mehr. Auch andere Lehrerinnen und Lehrer, die mich prägten, sind mittlerweile verstorben – einige davon jung, wie der Englischlehrer Caius Matei, die Biologielehrerin Dorothea Radu oder die Rumänischlehrerin Adriana Donciu.

Frau Donciu war nicht nur eine ausgezeichnete Pädagogin, die in Bukarest bei Nicolae Manolescu studiert hatte und rumänische wie auch Weltliteratur auf Hochschulniveau unterrichtete, sondern auch ein außergewöhnlicher Mensch. Hochgebildet, freundlich und resolut, bereitete sie uns auf das bevorstehende Abitur vor – ohne auswendig gelernte Kommentare oder vorgekaute Meinungen großer Literaturkritiker. Es gab angeregte Lektüren, einen offenen Meinungsaustausch und einen soliden, lebendigen Unterricht. Frau Donciu legte Wert auf Höflichkeit und Anstand, tat dies aber mit Witz und Leichtigkeit, frei von Dogmatismus. Sie kämpfte mit dem alten, starr chronologischen Lehrplan, unterrichtete mit Herz und Verstand, ließ uns Baudelaire und Proust entdecken, während wir ihr von den Buddenbrooks und Katharina Blum erzählten. Wir, „die Deutschen”, sie, „die Französin“.

Heute lehre ich an der Universität – nicht Literatur, sondern Handelsrecht und Volkswirtschaftslehre. Ich spreche dort auch vor Absolventinnen und Absolventen der Nikolaus-Lenau-Schule, meiner Schule. Einige ihrer Lehrer waren auch meine Lehrer, was mich jedes Mal freut. Andere aber nicht – und das, muss ich sagen, freut mich neuerdings noch mehr.

Denn seit wenigen Tagen tobt ein Skandal an der Lenau-Schule, den man schwer für möglich halten würde, wäre man nicht mit der kuriosen Entwicklung des rumänischen Bildungswesens der letzten Jahrzehnte vertraut. Wie mehrere Medien, darunter auch diese Zeitung, berichteten, haben Zwölftklässler der Schule öffentlich gegen ihre Rumänischlehrerin protestiert. Die Vorwürfe: Abweichung vom Lehrplan, religiöser Proselytismus statt Literaturunterricht, politische Indoktrination, Sympathien für die faschistische Legion des Erzengels Michael. Interne Beschwerden, so heißt es, liefen ins Leere. Das Kreisschulinspektorat – eine Behörde, die abgeschafft gehört, doch das ist ein eigenes Kapitel – habe die Verantwortung kurzerhand an die Schulleitung zurückgegeben und den Fall „in guter alter Verwaltungsmanier“ abgelegt. Sollte sich der Vorwurf der Sympathiebekundung für faschistische Ideologien bewahrheiten, droht mehr als eine disziplinarische Maßnahme – in Rumänien ist die Propaganda für solche Bewegungen strafbar.

Doch selbst wenn sich die Vorwürfe im konkreten Fall noch als unbegründet oder zumindest überzogen erweisen sollten – was nicht auszuschließen ist in einem Land, in dem der Übergang von Meinung zu Rufmord oft fließend verläuft –, wirft der Fall ein Schlaglicht auf strukturelle Probleme, die längst nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand beklagt werden. Die Schule, einst ein Ort der Aufklärung, ist heute vielerorts ein Schatten ihrer selbst. Es ist nicht der Einzelfall, der schockiert – es ist die Regelhaftigkeit, mit der solche Fälle auftreten, ohne dass die verantwortlichen Behörden in der Lage wären, wirksam zu intervenieren. Die Instrumente existieren auf dem Papier. Was fehlt, ist der Wille, sie konsequent einzusetzen – oder vielleicht schlichtweg die Fähigkeit dazu.

Die Pandemie hat dabei wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Was vorher brüchig war, zerbrach. Der Fernunterricht entblößte nicht nur die digitale Rückständigkeit des Systems, sondern auch das pädagogische Unvermögen vieler Lehrkräfte. Zu oft wurde lediglich vorgelesen, anstatt gelehrt, Aufgaben wurden verteilt, aber kaum mehr Rückmeldungen gegeben. Auch nach der Rückkehr in die Klassenzimmer blieb vieles auf der Strecke – nicht nur im Stoff, sondern vor allem im Anspruch.

Parallel dazu hat sich in Teilen des Lehrkörpers ein merkwürdiger Mix aus Obskurantismus, Überfrommheit und Wissenschaftsfeindlichkeit festgesetzt – Haltungen, die längst nicht mehr nur im Verborgenen gepflegt werden, sondern offen Eingang in den Unterricht finden. Das Verhältnis zur Aufklärung scheint bei manchen Pädagogen fundamental gestört, nicht wenige scheinen sich eher als Seelsorger, Lebensberater oder Volkserzieher zu begreifen denn als Vermittler von Wissen. Dass sich darunter immer wieder auch autoritäre und reaktionäre Tendenzen mischen, ist ein beunruhigendes Phänomen, das dringend mehr öffentliche Aufmerksamkeit verdient.

Gleichzeitig zerfällt die Autorität der Schule als Institution. Schulleitungen treten selten als Garanten der Integrität auf, sondern oft als Verwaltungsorgane im Überlebensmodus. Kontrolle ist meist nur eine Formalie, und selbst bei gravierenden Vorfällen bleibt das pädagogische Personal oft ohne Konsequenzen. Das Kreisschulinspektorat – eine Institution, die sich längst überlebt hat – trägt mit seiner Mischung aus Inkompetenz, Gleichgültigkeit und Hierarchiebesessenheit zur Verschleierung von Missständen bei. Man kennt sich, man schützt sich, man schweigt sich aus.

Hinzu kommt ein schleichender Werteverfall, der sich in einer Art pädagogischem Opportunismus niederschlägt. Immer mehr Lehrer scheinen sich nicht mehr als Fachautoritäten zu verstehen, sondern als Dienstleister am Kunden – und der Kunde, das ist inzwischen nicht mehr der Schüler, sondern der Elternrat. Die Noten steigen, die Leistung sinkt. Die Illusion des Erfolgs wird mit Samthandschuhen verteilt. Es wird nicht mehr unterrichtet, sondern beruhigt, nicht mehr gefordert, sondern gefallen.

All dies ist nicht die Folge einzelner Reformen oder Personen, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse. Seit den 1990er Jahren wurden so viele Reformen durchgeführt, dass kein Lehrer sie mehr zählen kann – und wohl auch kein Ministerium sie mehr überblickt. Stets wurde versprochen, modernisiert, angepasst, „europäisiert“. Doch Substanz war selten Teil der Agenda. Statt eines klaren, kohärenten Curriculums mit nachvollziehbaren pädagogischen Zielen bleibt ein Flickenteppich aus halbfertigen Konzepten, politischen Kompromissen und realitätsfernen Pilotprojekten.

Was das alles für die Kinder bedeutet, ist erschreckend einfach: Sie lernen zu wenig, zu unkritisch und zu beliebig. Und was es für die Gesellschaft bedeutet, ist noch schlimmer: Sie verliert das Vertrauen in eine Institution, die zu tragen die wichtigste Säule einer freien, aufgeklärten Demokratie war – und es wieder sein müsste.

 Wenn ich heute an meine Schulzeit an der Lenau-Schule zurückdenke, dann tue ich das mit Dankbarkeit – nicht aus Nostalgie, sondern aus dem nüchternen Bewusstsein heraus, dass ich damals Lehrerinnen und Lehrer hatte, die ihrem Beruf mit Ernsthaftigkeit, Leidenschaft und Charakter nachgingen. Nicht alle, aber die meisten. Menschen wie Frau Donciu, die nicht nur unterrichteten, sondern bildeten, nicht nur prüften, sondern prägten. Der Unterricht war anspruchsvoll, der Ton respektvoll, der Horizont weit. In Deutsch, in Englisch, in Rumänisch. Philologieklasse, eben. Umso schmerzlicher ist es zu sehen, wie dieses Erbe, das keineswegs perfekt, aber immerhin intakt war, zunehmend zerfällt. Der Niedergang, den ich heute beobachte, steht im krassen Gegensatz zu dem, was Schule einst bedeutete: ein Ort der Anstrengung, der Entdeckung, der intellektuellen Redlichkeit. Dass die Lenau-Schule nun selbst zum Schauplatz dieses Systemversagens wird, ist keine Ironie des Schicksals – es ist ein Alarmsignal. Und vielleicht auch ein Appell, sich nicht mit dem allmählichen Verfall abzufinden, sondern sich daran zu erinnern, dass Schule mehr sein kann – und wieder mehr sein muss – als ein Ort verwalteter Beliebigkeit.