Zwischen formeller Rechtslage und tatsächlichen Gegebenheiten

Dokumentarfilmfestival zum Thema Menschenrechte

Alberto („Little World”) ist der Meinung, dass ein Rollstuhl nur ein Accessoire ist, so wie Brillen, und plant seine Weltreise.

Die Blumenverkäuferin an der Ecke, der Priester von der Kirche nebenan oder das Kind, das immer im Park gegenüber spielt. Alle Menschen, denen man auf der Straße begegnet. Dazu noch all diejenigen, deren Existenz man nicht wahrnimmt, die aber weltweit ihr Leben Tag für Tag in Ruhe führen: Absolut alle besitzen etwas Wertvolles nur aufgrund der Tatsache, dass sie Menschen sind. Menschenrechte sind allgemeingültig. Aufgrund des Menschseins sollen alle mit gleichen Rechten ausgestattet sein, die universell, unveräußerlich und unteilbar sind. Diese Rechte haben sich historisch aus Unrechtserfahrungen entwickelt und dienen allen zur Mahnung. Niemand soll wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder seiner Behinderung benachteiligt oder bevorzugt werden. So heißt es jedenfalls in gut gemeinten Gesetzen und Erklärungen.

Was passiert aber, wenn die Wirklichkeit den schönen Worten der Theorie nicht entspricht? Was geschieht, wenn man in einem Staat, dessen Existenz von keinem anderen anerkannt wurde, vom Geheimdienst verhört wird? Oder wie kommt man mit einem Bürgermeister klar, der inmitten seiner Waffensammlung erzählt, wie viele seiner Feinde aus unerklärlichen Gründen immer wieder tot aufgefunden werden? Wie erklärt man den Fall von zwei Immigranten, die beim illegalen Grenzübergang erschossen werden, da sie anscheinend mit Wildschweinen verwechselt wurden? Oder den eines andersdenkenden Künstlers, der auf Ungerechtigkeiten aufmerksam macht und deswegen von seiner Regierung zum Schweigen gebracht wird?

Mit solchen Fragen und schonungslosem Realismus konfrontierten sich die Zuschauer bei dem One World Romania Dokumentarfilmfestival, das Mitte März zum sechsten Mal in Bukarest stattgefunden hat. Filme aus insgesamt 27 Ländern wurden gezeigt und bei den zahlreichen Gesprächen mit den Regisseuren wurde eines klar, dass eine Menschenrechtsverletzung für sich allein ein heikler Vorfall mit tiefen Wurzeln ist.

Hauptpartner des diesjährigen Doku-Festivals war das Rechtsstaatsprogramm Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ihr Leiter, Thorsten Geissler, äußerte die Meinung, dass die Menschenrechte im Allgemeinen immer weniger respektiert werden. „Viele Länder haben Verträge unterzeichnet, mit denen sie versprechen, Menschenrechte zu beachten. Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus”, meinte er. Hervorgehoben hat er auch, dass keine Gesellschaft es sich leisten könne, Talente zu verlieren. Wenn die Gesellschaft den Menschen Zugang zu Rechten, Möglichkeiten und Ressourcen verweigert, dann verliert sie potenzielle Arbeitskräfte. Und wenn man bedenkt, dass die Wirtschaft immer mehr von Kreativität angetrieben wird, dass Kreativität zur entscheidenden Quelle des Konkurrenzvorteils geworden ist, dann spielen Kreativität beziehungsweise Vielfalt eine sehr wichtige Rolle. Die Ausschließung der Minderheiten führe zum Verlust von Talent, dementsprechend vermindere sich die Wettbewerbsfähigkeit, und die Gesellschaft sei weniger wohlhabend, hieß es.

Bei der Eröffnung wurden aber auch spezifische heikle Aspekte der rumänischen Gesellschaft behandelt. Kinder des Kulturzentrums „La Bomba“ aus dem Bukarester Stadtviertel Rahova spielten mit dem Saxofonisten Mihai Iordache zusammen. Ihr Ziel war es, auf ihr Problem aufmerksam zu machen: In dem Stadtviertel zwischen dem Blumenmarkt und dem Bragadiru-Palast werden viele Roma-Familien aus rückerstatteten Gebäuden zwangsgeräumt.

Unfreundlich ist Bukarest auch mit den Behinderten. Eine kurze Doku, die für das Festival gedreht wurde, zeigte, wie schwierig es für diejenigen ist, die sich eines Rollstuhls bedienen müssen, um den Arbeitsplatz erreichen zu können. Zu den Schein-Krüppel-Protagonisten zählten verschiedene Vertreter der Botschaften, die an eigener Haut erleben konnten, dass die rumänische Gesellschaft kaum Verständnis für die Behinderten zeigt.

Dasselbe Thema behandelte die Produktion „Little world” (Spanien, Regie: Marcel Barrena): Die Doku spricht von Optimismus, Freiheit und Glück und beweist, dass die falsche Einstellung zum Leben die schwerste Behinderung eines Menschen ist. Der Film stellt einen jungen Mann im Rollstuhl in den Mittelpunkt, der sich als Ziel setzt, den Ort zu erreichen, der am entferntesten von seiner Heimatstadt Barcelona liegt. Mit nur 20 Euro in der Tasche erreicht der 20-Jährige ein paar Monate später sein Zehntausende Kilometer entferntes Ziel.

Im Rahmen des siebentägigen Festivals war das breit gefächerte Angebot am Anfang ein wenig verwirrend: Der Zuschauer hatte meistens nur wenig mehr als ein paar Minuten Zeit, um den Übergang von einem Film zum anderen zu schaffen, vom bulgarischen Gesundheitswesen zum chinesischen Regime, vom poetischen Leben eines taubblinden Koreaners zu dem eines kaltblütigen Mexikaners. Das Wechselspiel zwischen der formellen Rechtslage und den tatsächlichen Gegebenheiten war ein Thema, das in der einen oder anderen Form in allen Filmen auftauchte.

Dokus aus und über die ganze Welt

Zu den beeindruckendsten Filmen des Festivals zählte „Planet of Snail” (Südkorea, Regie: Seungjun Yi), eine zutiefst lyrische Geschichte über einen Taubblinden, der die Außenwelt hauptsächlich durch Berührung wahrnimmt. Fingerberührungen setzen sich zum schweigsamen Alphabet zusammen: Es ist das einzige Mittel, das ihn befähigt, mit den anderen zu kommunizieren. Berührend wirkte die Art, auf die der tatkräftige Mann Gedichte über einfachste Sachen schreibt, die er zu schätzen weißt. Außerdem inszeniert er mithilfe seiner Ehefrau das Theaterstück, das er selbst geschrieben hat.

Über eine völlig andere Wahrnehmung der Welt handelt der mexikanische Film „El Alcade” (dt. „Der Bürgermeister”). Der Hauptdarsteller, der Bürgermeister einer der reichsten Städte in Mexiko, hat auch eine einfache Einstellung zum Leben: Es gibt Jäger und Gejagte. Dabei ist es sehr interessant zu beobachten, wie er die Regeln der Jagd, die er sich schon als Kind heimlich angeeignet hat, auf den politischen Bereich anwendet. Wichtig ist ihm nur, die Vorherrschaft in der Stadt zu behalten. Welche Beziehung er zu den Drogenhändlergruppen oder dem zwielichtigen Milieu von Berufsverbrechern hat, kann man nur ahnen, denn im Film wird nichts Explizites zum Ausdruck gebracht. Die Doku handelt um schattenhafte, undurchsichtige Machtstrukturen. Ist es eine stillschweigende Vereinbarung der Bürger mit dem emporragenden Oberhaupt, das seine Bereitschaft offenbart, über seine Pflicht hinauszugehen und im Namen der Sicherheit alles zu machen?

Dieselbe unausgewogene Wechselbeziehung zwischen Theorie und Praxis im Bereich der Menschenrechte spiegelt sich auch im unheimlichen aber prägnanten Film „Revision” wider (Deutschland, Regie: Philip Scheffner). Die Doku recherchiert den Tod von zwei illegalen Immigranten. Die Roma wurden in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze 1992 von Jägern erschossen. Es war ein Fall, der schnell geschlossen wurde, ohne die betroffenen Familien in Rumänien darüber zu informieren. Zwei Jahrzehnte später werden von der deutschen Seite ausweichende Erklärungen abgegeben, die Befragten haben nur vage Erinnerungen an das, was geschehen ist. Die Täter sollen die dunkelhäutigen Flüchtlinge mit Wildschweinen verwechselt haben – das ist die Erklärung, die immer wiederholt wird, ungeachtet der Fragen, die gestellt werden. Dieser Fall ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Die damalige Wirklichkeit war vielschichtig: In den 90er Jahren haben Zehntausende von Menschen versucht, heimlich die deutsch-polnische Grenze zu überqueren. Auf der Suche nach einem besseren Leben haben nicht alle den Weg überleben können. Allerlei Gefahren und Schwierigkeiten mussten die Flüchtlinge überwinden; die Anweisungen der Schleuser musste man unbedingt beachten. Die illegal Reisenden kamen in größeren Gruppen, beim Grenzübergang mussten sie kriechen, was die zwei Opfer anscheinend nicht gemacht haben.

Ein anderes, schwer zu verarbeitendes Thema, das beim diesjährigen Dokumentarfilmfestival behandelt wurde, war das der persönlichen Erfahrung während des Kommunismus in Rumänien: „Après le silence” (Fankreich, Regie: Vanina Vignal) und „Anatomie des Weggehens” (Deutschland/Rumänien, Regie: Şerban Oliver Tătaru) sind Versuche, mit einer Vergangenheit klarzukommen, die als Last empfunden wird. Die Produktionen versuchen, die Erlebnisse zu erklären und Themen ans Licht zu bringen, die vorher nicht angegangen werden konnten. Wieso war das alles möglich und was hätte man anders oder besser machen können? Nur eines ist sicher: Die Dimensionen, die die Erscheinung des Kommunismus erreicht hat, inklusive der Bereiche, in die er sich hineingedrängt hat, sind – auch viele Jahre später – kaum fassbar.

Der Gewinner des Preises der diesjährigen Ausgabe von One World Romania war die tschechische Filmproduktion „Die Festung” (Regie: Klára Tasovská und Lukás Kokes). Der Film, der in Transnistrien gefilmt wurde, hat nicht den Anspruch einer soziologischen Studie über das alltägliche Leben in der separatistischen Republik. Er lässt aber den Zuschauer ahnen, wie ein Tag im Leben eines transnistrischen Bürgers aussehen könnte. Die Einheimischen haben zahlreiche Reisepässe zur Hand, je nachdem, welche Grenze sie gerade überqueren: Einen moldauischen, einen russischen, aber auch einen transnistrischen Reisepass können sie zeigen, der Letztere ist aber so gut wie nichts wert, denn Transnistrien ist von keinem Staat anerkannt. Wahlkampfwerbung stellt den Bürgern eine paradiesische Gesellschaft jenseits des Dnjestrs dar. Viele leicht zu täuschende Menschen glauben, was ihnen vorgegaukelt wird. Diejenigen, die vor der Wirklichkeit die Augen nicht einfach verschließen können, schweigen resigniert angesichts ihrer Ausweglosigkeit. Der Regisseur, der vom Geheimdienst in Transnistrien wegen seines Films verhört wurde, vergleicht die Atmosphäre mit der, die in Kafkas Prosa herrscht: Ausdrücklich wird nichts verboten, man kann aber schuldig sein, ohne es selbst zu wissen.