Der Tag beginnt mit einem Traum. Oder einer Anekdote. Manchmal auch mit einem Witz. Ioan Sârb weiß, dass vor allem Menschen aus dem Westen bei Rumänien nicht an Lebensfreude und Humor denken. Weil sie mit seiner Heimat noch immer die Nachrichten von vernachlässigten Kindern aus den Waisenhäusern verbinden, Bilder der blutigen Revolution von 1989 im Kopf haben, nicht zuletzt von der Hinrichtung des Diktators Ceauşescu und seiner Frau Elena im Dezember 1989. Düsternis, Armut und Unterdrückung erwarten, die Herta Müller, die Literatur-Nobelpreisträgerin, in ihren Romanen schildert.
„Weil mein Vater so viel weiß“
Ioan Sârb, 49, Waldhornbläser der Philharmonie Kronstadt/Braşov, liebt sein Land. Seit zwei Jahren zeigt er Touristen aus Deutschland für den Reiseveranstalter „Wikinger-Reisen“ mit Sitz in Hagen (siehe www.wikinger.de) die schönen Seiten seiner Heimat: die Karpaten, die Kirchenburgen, die Klöster.
Seine Frau Elena, Literaturwissenschaftlerin und Lehrerin, und seine Töchter Antonia (19) und Sarah (14) haben ihn dazu ermuntert. „Weil mein Vater so viel weiß“, sagt Antonia, die Ältere. Wie viel sie selbst schon weiß, erleben 22 Reisende Ende August, als sie ihnen Geschichte und Besonderheiten der Schwarzen Kirche in Kronstadt erläutert: der Stadt, in der ihr Vater geboren wurde, in der sie zur Schule ging und in der die Familie Sârb lebt.
Dass seine Eltern ihre Liebe mit einer Hochzeit besiegeln wollten, sei nicht einfach für sie gewesen, erzählt Ioan Sârb. Nicht weil sein Vater als Schlosser und seine Mutter als Krankenschwester arbeiteten, sondern weil sie Deutsche war, aus dem Kreis Hermannstadt/Sibiu, und er Rumäne, aus dem Kreis Arad. Nachdem Ioan Sârb das Musikgymnasium besucht hatte, leistete er bis 1983 seinen Militärdienst ab. In einem Panzer-Regiment. Als er zurückkam, waren im Ceau{escu-Regime Künstler wenig gefragt.
Ob sie die Klarinette spielten, wie es Ioan Sârb gerne getan hätte, Fagott, für das er eigentlich „eingeschrieben war“, oder das Waldhorn, „das dann zufällig auf dem Tisch lag und für das es zu wenige Schüler gab.“ Von Tor zu Tor sei er damals gegangen, um eine Anstellung zu finden, erinnert sich Sârb.
„In der Traktorenfabrik, in der mein Vater damals arbeitete, wollten sie mich nicht, weil ich vom Gymnasium kam und nicht von der Berufsschule.“ Gearbeitet hat er dort dann trotzdem. „Wegen der Kaffeepäckchen“, sagt er und lacht. Es ist ein Lachen, hinter dem sich viel Traurigkeit versteckt.
„Die größte Freiheit ist, keine Angst mehr zu haben“
Konzerte von Mozart, Sonaten von Beethoven, Kompositionen von George Enescu. Ioan Sârb hat sie alle gespielt. Zusammen mit seinen Kollegen der Philharmonie Kronstadt ist er mit ihren Werken nicht nur in Konzertsälen in Rumänien aufgetreten, sondern in den 90er- Jahren auf vielen Tourneen. Gastspielreisen haben das Ensemble durch ganz Europa geführt.
Auch nach Japan. Welche Freiheit für den passionierten Bergsteiger, der mit seinen Freunden bis zum Sturz des Diktators ins Gebirge gegangen war, in die Karpaten, „wo es die Möglichkeit gab, sich zu unterhalten, ohne dass man daran dachte, die Securitate könnte mithören.“ Ioan Sârb lacht wieder. Jetzt aber strahlt sein ganzes Gesicht: „Die größte Freiheit ist, keine Angst mehr zu haben.“
Ein Traum, eine Anekdote, ein Witz. „Ich vermisse mein Instrument“, sagt der 49-Jährige, „meine Kollegen, die Musik“. Erst jetzt, Anfang Oktober, kehrt er wieder zu ihnen zurück.
Auch zu seiner Familie, die ihn sechs Wochen nur für kurze Augenblicke gesehen hat. Bis heute werden die Freundinnen, Schwestern, Alleinreisenden, Paare aus Baden-Württemberg, Hessen, Hamburg, Brandenburg, die er Ende August führte, zuhause ihre Erinnerungen und Bilder wohl sortiert haben. Der Jüngste, Gymnasialschüler der 9. Klasse, der Älteste, 78, Literaturwissenschaftler im Ruhestand. Leichtfüßig hatte sie Ioan Sârb alle hinauf auf 1400 Meter Höhe in die Südkarpaten um Zărneşti ins Königstein-Gebirge geführt.
Seinen grauen Schläfen zum Trotz bei wesentlich besserer Kondition als seine Mitstreiter. Herzlich hatte er Cristian, den Hirten, und Schwester Tatjana, die Nonne vom Kloster Moldoviţa, umarmt. Wer mit Ioan Sârb reist, dem öffnen sich nicht nur Türen.
Bruder Antonius im Kloster Neamţ, Gliceria Hretiuc, die Malerin in Suceava, die Eier zu kleinen Kunstwerken macht, Hans Schaas, der Kurator der evangelischen Kirche in Reichesdorf, Augustin, der Roma-Junge: Menschen mit individuellen Eigenarten, mit unterschiedlichen Ansichten, verschiedenen Lebenserfahrungen.
Aus dem für die meisten der Gruppe einst eher düsteren Bild von Rumänien vereinigen sich Besichtigungen, Begebenheiten wie Begegnungen zu einem vielfarbigen Kaleidoskop.
„Wir wollen uns einen eigenen Eindruck von Rumänien machen“
Jutta, die 50-jährige Beamtin aus Hamburg, hat die Reise gebucht, weil sie eine Fernsehreportage über die Karpaten gesehen hatte und neugierig war, „ein ehemaliges Land des Ostblocks kennenzulernen“.
Iris (52) und Joachim (47) aus Mixdorf bei Brandenburg geht es nicht anders. Das Ehepaar war bereits mit dem Rad in Lettland und Estland unterwegs. Nun wollen sich die beiden Kultur- wie Wanderbegeisterten einen Eindruck von Rumänien, dem „neuen“ EU-Staat machen. Für Luise, die 63-jährige Lehrerin aus Rothenburg, ist die Reise auch eine in ihre persönliche Vergangenheit. „In den 60er Jahren hatte ich eine Freundin in Hermannstadt, das in einem fernen Land lag. Ich konnte gar nicht verstehen, wieso sie so gut in Deutsch schreiben konnte.“
Schäßburg mit seiner Altstadt, das Holzmuseum in Câmpulung, die Törzburg in Bran, die Weiten der Walachei, die evangelische Kirche der Landler in Neppendorf, schließlich Hermannstadt mit seinen Plätzen, der Stadtpfarrkirche, der orthodoxen Kathedrale, der Lügenbrücke: In der Europäischen Kulturhauptstadt 2007 verbringen die Reisenden ihre letzten Nächte. Auch den Morgen vor dem Abflug, an dem noch Zeit ist, das größte Freilichtmuseum des Landes mit seinen 350 Bauten zu besuchen.
An einem sonnigen Samstagmorgen
Brautpaare allenthalben, die zum Hochzeitsfoto vor den Hütten, Häusern, Mühlen aus allen Teilen Rumäniens posieren. Nur ein einziges feiert in Tracht. Die Schwiegermutter des Bräutigams reicht honigsüßen Kuchen, im Tonkrug geht der Schnaps rum. Die Kameras klicken.
Noch ein Foto, ein zweites, ein drittes. Am Flughafen werden Telefonnummern und Adressen ausgetauscht. Abflug für die Maschine zurück nach München ist um 17.50 Uhr, der einzige Start am Samstagnachmittag von Hermannstadt nach Deutschland. Ein schneller Abschied. Die Wege der 22 Reisenden trennen sich wieder. Für zwei Wochen waren sie vereint in der Neugierde auf ein ihnen allen kaum bekanntes Land. In der Erinnerung an dessen Schönheiten und Widersprüchlichkeiten werden sie es bleiben.
Ioan Sârb hat schon Stunden früher in Bukarest die Neuankömmlinge für seine nächste Tour in Empfang genommen. Um ihnen sein Heimatland zu zeigen. Ioans einziger Bruder lebt in Deutschland, in der Nähe von Frankfurt. „Ich aber werde niemals auswandern.“